25. Oktober 1991::
Heute feiern wir das zweite Geburtsdatum von Niklaus.
Sein Motorradunfall vor einem Jahr hätte ihn uns sterben
lassen können, was eine Riesenlücke in unsere Familie
gerissen hätte. Auch er schätzt sein Leben trotz den schweren
Folgen wieder und ging heute zu unserer Überraschung aus
eigenem Willen in die Pfarrkirche danken. Abends weinte
er zwar doch nochmals, wie schon öfters.
Jedesmal lösen sich dann auch bei mir die Tränen.
Die Hirnverletzung lässt Dich, Niklaus, nicht an den
Unfall, an das Jahr davor und danach nur schwach erinnern.
Darum will ich Dir davon erzählen:

 

Der lange Traum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




Es war der erste neblige Morgen im Herbst 1990. Am Abend davor war der Himmel voller Sterne. Ich besuchte mit Frau Gmür Frau Koch, die wegen den übermässigen Rückenschmerzen um Kraft und Humor kämpfte. Wir machten mit ihr einen Abendspaziergang.
Du warst noch am Fernsehen, als ich um 22 Uhr nach Hause kam, Papa war schon im Bett. Ich schimpfte mit Dir: «Morgen musst Du zur Schule, man kann doch nebst den Aufgaben nicht noch alle Filme in den Kopf beigen!»
Am Morgen warst Du still wie öfters am Tisch, ich erinnere mich aber, dass Du abwesend und zerstreut wirktest. Der kalte Nebel passte Dir wahrscheinlich nicht, oder warst Du mit dem Kopf schon in der Schule? Weil Papa noch in der Alp zu tun hatte, musste auch ich meine Arbeit einteilen: sein Mittagessen vorbereiten, um es in die Isolierflasche zu füllen, haushalten, das Milchgeschirr und den Brunnen waschen und den Stall fertig machen. Ich kaufte beim Milchmann unter anderem eine Flasche Kaffeerahm für Dein Alpweekend, das Du mit den Kollegen vorhattest. Erst um 10.30 Uhr kam ich ins Haus zurück, mit Brot, Butter und eben dem Kaffeerahm in den Händen. Dann folgte das Pech beim Einräumen: der Kaffeerahm rutschte mir aus. Die Flasche lag in Hunderten von Splittern in der weissen Masse.
Etwas verärgert räumte und wischte ich auf, wurde dann aber vom Schrillen des Telefons unterbrochen. «Notfallstation des Kantonsspital St. Gallen, Frau Manser, einen Moment bitte, ich verbinde Sie mit dem Arzt.»
In meinem zwar gefassten Schreck empfand ich diesen Moment, wie auch den zweiten sehr, sehr lang. Ich dachte an Judith und an Franzjosef: «Ist ihnen wohl in der Pause etwas geschehen?» «Frau Manser, sind Sie noch dran, einen Moment nochmals, der Arzt kommt sogleich», und schon war die Stimme wieder weg. Da meldete sie sich noch einmal und ich bat sie, mir doch endlich zu verraten, was geschehen ist. «Ja, wir versuchen Sie schon seit neun Uhr zu erreichen, aber niemand meldete sich. Ihr Sohn Niklaus ist mit dem Motorrad schwer verunglückt und wurde mit der Rega um zwanzig vor neun Uhr zu uns gebracht», war die Antwort, «so, nun habe ich die Verbindung mit dem Arzt, alles Gute Frau Manser.» Ich weiss den Namen des sprechenden Arztes nicht mehr, aber er versuchte, alle meine stürmischen Fragen zu beantworten. Er wusste, dass Niklaus um 7.50 Uhr beim Restaurant Landbau vor Muolen verunglückte und um 8.40 Uhr mit der Rega bewusstlos eingeliefert wurde. «Die Folgen des Unfalls sind nicht harmlos, Frau Manser», tönte es noch lange in meinen Ohren. «Wir untersuchten Herr Manser unter Narkose und stellten fest, dass er Quetschungen auf der Lunge hat und deshalb nicht selber zu atmen vermag. Sein rechter Arm scheint gelähmt zu sein, denn gebrochen ist nichts. Selbstverständlich können Sie vorbeikommen, aber im Moment können Sie ihrem Sohn nicht gross helfen.»
Ich kehrte zu meiner begonnenen Arbeit zurück, der Kaffeerahm reute mich jetzt nicht mehr, weil das Alpweekend sowieso abgesagt werden musste.
Ich liess meinen Gedanken freien Lauf. Edith, unseres Nachbars Tochter, welche vor einigen Jahren einen so schlimmen Unfall mit schweren Folgen durchlitt, kam mir in den Sinn. Wird Niklaus im Rollstuhl landen? Warum ist er überhaupt verunglückt? War ich froh, dass er niemand bei sich hatte, dass niemand unschuldig in den Unfall verwickelt wurde.
Soll ich jetzt Papa benachrichtigen, ist es überhaupt nötig? Soll ich ihn nicht noch diesen Nachmittag unbesorgt in seiner geliebten Alp arbeiten lassen? Ach, wäre Niklaus doch mit dem Zug zur Schule gegangen! Ich hätte ihn früh wecken und ihm sagen sollen, dass es Nebel hat.
Ich klagte die schlechte Nachricht Frau Baumgartner in der oberen Wohnung und bat sie, mich ins Spital zu fahren und eventuell die Kleinen von der Schule zu empfangen.
Auf der Notfallstation begann dann schon das lange Warten. Endlich kam ein junger Arzt und schenkte mir einige Minuten Zeit. Auch er wusste nicht, wieso Niklaus verunfallte, vermutete einfach, dass er wie alle Motorradfahrer zu schnell gefahren sei. «Verbieten sollte man einfach diese Motorräder» meinte er, «es ist reiner Wahnsinn, wie viele junge Leute ständig bei uns landen.» Ich wehrte mich schon ein wenig gegen diese Anschuldigung: «Natürlich war auch ich gegen dieses grosse Motorrad und hatte den ganzen Sommer Angst. Aber es gibt auch Unfälle mit Autos.»
Niklaus glaubte mit seinem Beruf als Motorradmechaniker schon mit 18 Jahren Recht auf ein grosses Motorrad zu haben. Zudem verdiente er es selber; auch für die Sicherheit sorgte er und kaufte sich einen guten Helm, ein tolles Ledergewand und eine schlagfeste Brille. Somit glaubte er sich geschützt, auch wenn mal etwas passieren würde.
«Ja, Frau Manser, nun ist eben doch mehr passiert», und er wiederholte die momentanen Feststellungen welche sein Kollege erläuterte: «Die Schatten auf der Lunge werfen noch Rätsel auf. Kommen Sie um 16 Uhr auf die Intensivstation, jetzt können Sie nur mehr stören als nützen.»
Mit dem Wunsch, Dich sehen zu können, bewegte ich mich etwas verirrt und enttäuscht nach draussen ins Empfangsbüro. Da traf ich eine Bekannte aus Appenzell, welche auch in Wittenbach wohnt. Anscheinend arbeitete sie im Spital und war im Begriff, sich von ihrer Kollegin zu verabschieden, welche ihr gerade über den neuesten Fall Bescheid erteilte. Ich bat sie, mich mitzunehmen, um nicht nochmals Frau Baumgartner beanspruchen zu müssen, so mitten in der Vorbereitung des Mittagessens. Ganz selbstverständlich chauffierte mich Marie-Louise heim und erzählte mir von ihrer Angst, welche sie ständig plage, wenn ihr Sohn seinem gefährlichen Hobby Delta-Segeln nachgehe. Wir stimmten gemeinsam überein mit dem bekannten Spruch 'kleine Kinder, kleine Sorgen, grosse Kinder, grosse Sorgen'.
Franzjosef war schon bei Frau Baumgartner, er erinnert sich noch heute an die ungewohnt leere Küche und glaubt auch, an jenem Vormittag den unheimlichen Lärm vom Krankenauto und dem Helikopter gehört zu haben.
Ja, ich war froh, dass ich am Morgen auch für uns vorgekocht hatte; eine Suppe dazu war schnell zubereitet. Judith traf auch ein und so dachten wir zu dritt während dem Essen nach, wieso Du mit dem Motorrad verunfalltest. Judith wollte wissen, ob Du jetzt im Spital isst, ob Du Schmerzen hast, ob Du Pflästerli brauchst und nahm sich den Vorsatz, am Abend für Dich zu beten, dass Du wieder gesund wirst. Franzjosef meinte, ihm mache es nichts aus, wenn sein Bruder behindert wie Judith heimkomme, nur laufen, mit ihm spielen und rammeln sollte er noch können. Schon kam ein Telefon von einem Mitschüler aus Weinfelden. Mit dem Kantinelärm im Hintergrund erkundigte sich Martin nach Deinem Verbleiben.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich auch andere Bezugs-personen informieren musste. Ich telefonierte Herrn Bühler, Deinem zweiten Chef ab dem 15. Oktober, sowie auch Familie Studerus. Sobald die Kleinen wieder in der Schule waren, versuchte ich die Polizei zu erreichen, um Näheres über den Selbstunfall zu erfahren. Die St.Galler Polizei wies mich zur Thurgauischen, welche mich erst später mit dem zuständigen Mann verbinden konnte. Unterdessen traf auch Deine Schwester Anita ein. Die schlechte Nachricht traf sie tief, sie wurde bleich und nachdenklich. Dann telefonierte ich ins Gasthaus Lehmen; ob jemand Papa in der Alp benachrichtigen könne. Er musste ja früher als geplant heimkommen, weil ich statt die Kühe zu füttern, zur Intensivstation wollte. Hermann, der Wirt, fuhr persönlich in den Böhl mit der schlechten Botschaft. So erreichte ich dann endlich auch den zuständigen Polizisten von Horn. «Ja, ihr Sohn ist bei der Linkskurve beim Ballen direkt in einen Baum gefahren. Der Betonpfahl davor schleuderte die hintere Motorradverkleidung weg. Niemand hat ihn gesehen, wie er fiel. Er muss zu schnell gefahren sein, den die Schule hätte ja um 8 Uhr begonnen.» Schon wehrte ich mich wieder einer Anschuldigung: „Die Schule beginnt um 8.30 Uhr in Weinfelden und als Raser ist Niklaus nicht bekannt. Wieso liess man den Verunfallten eigentlich so lange liegen?“ Gegen diesen Vorwurf wehrte sich natürlich der Polizist: Di Wirtin vom Restaurant Landbau hat die Polizei sofort benachrichtigt, welche ihr Bestes zu tun versucht hat. Bis zu ihrem Eintreffen hat ein Verkehrsteilnehmer Erste Hilfe geleistet. Die Benötigung der Rega brauche nun mal seine Zeit. Ich antwortete, dass wahrscheinlich jede Angehörige eines Verunfallten im ersten Schock der Meinung ist, die Folgen des Unfalls wären weniger schlimm, wenn schneller gehandelt worden wäre. Der Polizist gab mir noch zu wissen, dass die Schultasche und die Ausweise bei ihnen abzuholen seien. Dann begab ich mich in Dein Zimmer und fand einen Schulordner offen neben dem ungemachten Bett. Während ich ihn durchschaute und anschliessend betete, tauchten wieder Fragen auf: Warum ..., hat er diesen Ordner vergessen, lernte er morgens noch darin, war er überfordert wegen dem geplanten Alpweekend und heute Abend sollte er ja noch zum Pfadi-Höck nach Rotmonten?
Wir kümmerten uns so wenig um seine Pflichten, er erzählte ja auch nicht viel davon und war so selbständig. Wir mussten ihn morgens nie wecken! Ich wusste nicht einmal ob er heute wirklich später dran war als sonst. Frau Baumgartner fuhr mich dann nochmals ins Spital. Da lernte ich die Intensivstation kennen: in einem einfachen, kleinen Raum sind Stühle an die Wand gereiht. Ein Gestell voller grüner Rockschürzen laden dazu ein, sich auf den Besuch der Patienten vorzubereiten. Eine freundliche Schwester öffnete die matte Glastüre auf das Melden mit der Anmeldeglocke. Sie erkundigte sich nach dem Namen, auch dessen des Patienten und ging ins entsprechende Zimmer nachsehen, ob der Besuch eintreten könne.

 

Intensivstation

Gefasst schritt ich zu Deinem Bett; totenblass war Dein Gesicht, aber nicht entstellt. Deine entblösste Brust war voller Kabel, in Deine Nase führte ein dünner Schlauch, welcher Dir Sauerstoff zuführte. Im Hintergrund liess eine Apparatur voller Lichter und Kurven ein nervöses, monotones Tönen von sich hören. Ich war überrascht, dass sich noch drei Patienten im kleinen Raum befanden. Eine eigenartige Stimmung umgab uns alle. Die Schwestern und Pfleger wirkten ruhig. Ein Arzt kam auf mich zu: «Sind sie die Mutter von Herr Manser?» Nach meiner Bejahung reichte er mir die Hand und sagte mit ernster Miene, dass es Zeit wäre, dass Herr Manser aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde. Er wiederholte nochmals, was sie bis anhin mit Dir gemacht haben und empfahl mir, nach Möglichkeit in Verbindung zu bleiben, sei es mit Besuchen oder Telefonanrufen. Gerade in ein stilles Gespräch mit Dir versunken, wurde mir befohlen, das Zimmer zu verlassen. Die Schwester übergab mir noch Deine Kleider in einem Plastiksack und machte mich darauf aufmerksam, eines von den aufliegenden Merkblättern im Warteraum mitzunehmen. Darin las ich dann, dass nur Angehörige die Patienten jeweils von 10-11 Uhr und von 16-20 Uhr besuchen können, aber nicht länger als zehn Minuten.
Enttäuscht darüber, dass Du immer noch bewusstlos da- lagst und dass ich nur so kurze Zeit bleiben durfte, suchte ich eine Telefonkabine und bat Frau Baumgartner, mich wieder zu holen. Papa war nun Zuhause und erfuhr die näheren Angaben zum Unfall bei seiner Ankunft von Baumgartners. Gefasst nahm er den neuesten Stand der Folgen auf und wir beschlossen, nach seiner Stallarbeit nochmals gemeinsam ins Spital zu gehen. Judith und Franzjosef verweilten schon im oberen Stock bei Baumgartners und fanden es spannend, was Mama von der Intensivstation erzählte. Sie hofften ganz fest, dass ihr grosser Bruder nicht stirbt. Unser Abendbesuch konnte nicht viel verändern. Du hast Dich zwar öfters auf der linken Seite bewegt, hast dabei aber geschlafen. Papa wollte die kurze Besuchszeit genau einhalten, was mir sehr schwer fiel. Zuhause benachrichtigten wir noch Deinen Götti und Grossmutter. In der Nacht schliefen wir schlecht, wir redeten von Edith's Unfall. Wird bei Niklaus nun auch so ein langer Spital-aufenthalt folgen? Am folgenden Morgen erkundigte ich mich sofort telefonisch nach Deinem Wohlergehen, nachdem Deine Geschwister aus dem Hause waren. Niklaus sei noch immer im bewusstlosen Zustand, bekam ich zur Auskunft. Da wurde mir bewusst, dass wir uns auf eine längerfristige Sache einstellen müssen. Ich bereitete nach dem Haushalten ein kurzes Mittagessen vor und fuhr nach 10 Uhr zur IPS, wie das Personal auf der Intensivstation ihren Arbeitsplatz nennt.
Es war gerade Arztvisite, als ich zu Dir wollte. Ein fröhliches Fräulein bat mich zu warten. Schon gesellte sich noch eine Frau zu mir, die ihren frisch operierten Mann besuchen wollte. Während sie mir dessen Krankengeschichte erzählte, legte sich meine Spannung, die Wartezeit verlief schneller. Als ich dann verloren bei Dir stand und Deine unruhige linke Hand in meine legte, nahm ich mir vor, die vorgeschriebene Besuchszeit von zehn Minuten nicht einzuhalten. Ich wartete, bis mich jemand aufforderte zu gehen. Der Pfleger hatte Verständnis und liess mich lange dasitzen. Ob er wohl ahnte, wie sich Angst und Hoffnung in meinem Innern bekämpften? „Ich komme um 16 Uhr wieder“, versprach ich beim Abschied. Auf dem Heimweg fuhr ich zu Herr Vikar in St.Konrad und fragte ihn, ob die Priester mit ihren vielen Aufgaben in der Gemeinde auch noch Zeit hätten, für unseren verunglückten Sohn zu beten. Er segnete mich für die kommende schwere Zeit und versprach, alle zum Beten aufzufordern. Anschliessend holte ich in der Apotheke Stärkungsmittel und Johanniskrauttee, um meine gespannten Nerven kräftig zu unterstützen.
Beim Mittagessen machte ich den jüngeren Geschwistern klar, dass Mama in den nächsten Tagen öfters im Spital bleiben werde, dass sie aber bei meiner Abwesenheit zu Frau Baumgartner gehen dürfen. Natürlich war sie auch gerne dazu bereit, was für mich eine grosse Erleichterung war.
An jenem Vesper sassen noch andere Personen im Warteraum. Alle wirkten bedrückt und waren still. nach meiner Anmeldung erläuterte die nette Schwester, dass ich vor 17 Uhr nicht zum Patienten gehen könne. So entschloss ich mich erstmals in die bekannte Spitalkappelle zu gehen. Ich befand mich ganz alleine im stillen, wohltuenden Raum mit Jesus am Kreuz in der Mitte. Rechts am Altarende strahlte Maria von Blumen und brennenden Kerzen umrahmt ihre Demut aus. Auch ich zündete eine Kerze an und liess meinen Tränen freien Lauf. Ich betete um Kraft, das Schicksal zu ertragen, komme es wie es wolle. Im gleichen Atemzug bettelte ich aber stets: „Lass seinem guten Kern nochmals Gelegenheit zu leben. Seine jüngeren Geschwister brauchen ihn ja noch so sehr.“ Dieser stille Ort war dann in all den vielen Wochen Deines Spitalaufenthaltes meine kräfte-spendende Zuflucht, bei langen Wartezeiten auch ein entspannender und sinnvoller Zeitvertreib.
Ja, auf der IPS waren alle Ärzte beunruhigt ob Deinem Zustand. Dein linkes Hirn sei angeschwollen, es bestehe die Gefahr, dass es weiter anschwillt. Du bewegtest Dich immer heftiger, was Dein Atmen erschwerte Sie würden Dich ruhig stellen, d.h. drei Tage ins Koma (klinischer Tod) versetzen und dem Sauerstoff ein chemisches Mittel beigeben, das dafür sorge, dass die Schwellung sich zurückbildete. Ich durfte zusehen, wie sie Dich vorsichtig von Kopf bis Fuss wuschen und frottierten. Für mich war das Ansehen Deiner Blösse eine Qual. Ich hätte Dich am liebsten zugedeckt; ich meinte, nach so langem Daliegen frierst Du doch. Die vollbeschäftigten Schwestern, Pfleger und Ärzte waren doch auch mehr bekleidet. Natürlich schwitzte ich in meinem Pullover und der obligatorischen Schürze nicht.
Am Abend fuhr ich nochmals mit Papa zu Dir. Ein anderer Arzt unterrichtete uns über das bevorstehende Vorhaben. Du wirktest nun ruhig und der Pfleger mahnte, Dich nicht zu streicheln, das würde Dich nur irritieren. So blieb uns nichts anderes übrig, als still dazustehen und unsere angstvollen Gedanken zu untergraben. Wird er rechts gelähmt sein, wird er je wieder einmal gehen und reden können? Zum Glück ist sein Rücken nicht verletzt. So begannen wir, etwas Positives zu betrachten. Zuhause angelangt erzählte uns Franzjosef, dass zwei Bekannte sich nach Deinem Wohlergehen erkundigt hätten. Da sahen wir ein, dass es besser sei, wenn Mama tagsüber und Papa am Abend Dich besuchen gehe, weil sonst die Kleinen zu kurz kommen würden und zappelig werden.
So warst Du Samstag, Sonntag und Montag in einen Tiefschlaf versunken. Sämtliche Funktionen nahmen Dir die Maschinen ab und sie überwachten auch Deine Reaktionen. Wir sassen so viel wie möglich bei Dir, beteten stille und wünschten, dass alles gut verliefe. Zwischendurch erlebten wir auch Deine Mitpatienten, die meistens nach Operationen aus ihrer Narkose erwachten. Einigen fiel das Atmen schwer und sie bekamen eine Glocke vor die Nase, wie auch Du eine hattest. Seit Deinem Eintritt gab es natürlich schon einige Wechsel. Im Warteraum war hie und da eine ganz besondere Atmosphäre. Vielen tat es wohl, wenn sie über ihr Leid klagen konnten. Fragten Sie nach unserem jungen Burschen, waren sie mit dem eigenen Fall meist wieder zufrieden.

Daheim mussten wir immer häufiger Telefonanrufe beant-worten. Wie gerne hätten wir bessere Nachrichten über-mittelt. Einige Verwandte waren entsetzt und fassungslos ob Deinem Zustand. Alle versprachen für Dich und für uns zu beten. Viel lieber waren mir jene wenigen Mitmenschen, die uns Mut zusprachen, die optimistisch dachten und uns positiv beeinflussten. Unter jenen befanden sich zwei Frauen, die jetzt regelmässig im Warteraum der IPS anzutreffen waren. Ihre Männer litten unter Krebs und landeten nach einer schweren Operation auf der IPS.
Die eine Frau erzählte mir, dass ihr Mann schon seit Weihnachten hier im Spital zwischen Abteilung und IPS pendle. So fährt sie täglich aus Österreich über die Grenze zu Besuch, manchmal begleitet von ihrer 13jährigen Tochter, mit der ich auch einmal intensiv ins Gespräch kam. Auf jeden Fall rühmten sie die Ärzte in St.Gallen und hofften sehr auf ihre Hilfe, was der Patient selbst vorbildlich tue. Im Glasergeschäft zuhause in Lustenau dürften sie grosse Hilfsbereitschaft erfahren.
Die andere Frau kam von St.Gallen und erzählte mir, wie sie schon anfangs der Pensionszeit von der heimtückischen Krankheit erfahren mussten. Ganz bewusst machten sie auf Rat des Hausarztes gemeinsame Ferien in Graubünden, um Kräfte für die kommende, schwere Zeit zu sammeln. Ja, mit viel Vertrauen und Zuversicht versuchte sie nun, zweimal im Tag ihrem Mann auf der IPS beizustehen. Auch er erwachte erst nach längerer Zeit und war am Anfang zu schwach, die Augen zu öffnen und zu sprechen. Die Frau riet mir, die Angst mit positivem Denken zu verdrängen. Ihr Arzt habe ihr bewusst gemacht, dass wir einfach fest wünschen müssen:

Du wirst wieder gesund - nur dürfe man keine Zeit festlegen.
An meinem Willen fehlte es nicht; in der Spitalkappelle lud ich stets meine Ängste ab, indem ich meinen Tränen den Lauf liess, da mir auch Anita Kummer machte. Ich staunte eigentlich oft, dass dieser stille, tröstende Ort nicht mehr von andern benutzt wurde.
Unterdessen haben sich auch Deine Kollegen immer wieder nach Deinem Zustand erkundigt und wollten Dich besuchen. Die Ärzte und Schwestern erlaubten, dass ein oder zwei Freunde Dich besuchen dürfen, nur mussten es stets die gleichen sein.
Marcel und Ralph haben sich bereit erklärt und kamen nun täglich kurze Zeit zu Dir. Sie versuchten Dir vom Tagesgeschehen, vom einst geliebten Sport und von alten Erinnerungen zu erzählen, um Dich endlich wach zu rufen.
Dein Zustand verschlechterte sich, Du kämpftest mit einer Lungenentzündung. Ich glaubte, die schwache Bedeckung sei schuld. Die Ärzte stellten jedoch fest, dass die Schatten auf der Lungen jenes Blut war, welches Du beim Unfall wegen starkem Nasenbluten geschluckt hast. Da sei eine Lungenentzündung eine normale Folge. So ein junger, gesunder und kräftiger Bursche werde das schon überstehen, meinte der Arzt achselzuckend.
Du kämpftest mit dem Husten, der Dir jetzt hie und da die Augen aufschlug. Du hattest Fieber und zittertest manchmal am ganzen Körper, der mehr und mehr an Gewicht verlor. Es war so schrecklich dabei zu sein und nicht helfen zu können. Die Schwestern mussten ständig das Sekret absaugen, weil Dir die Kraft fehlte, es auszuspucken.
Hie und da traf ich mit Ralph und Marcel im Warteraum zusammen. Ich konnte ihnen ablesen, wie auch sie mit der Hoffnung auf Besserung kämpfen mussten. Die Schwestern waren sehr beeindruckt, wie sich die zwei Freunde von Deinem Zustand belasten liessen und mit Dir litten. Wir in der Familie hatten auch mit Zweifeln zu kämpfen. Dennoch versuchten wir uns gegenseitig Hoffnung zu machen.

 

Die ersten Augenblicke

Am 1. November öffnete sich erstmals Dein linkes Auge, was Du dann immer öfters auch mit beiden Augen versuchtest. Nur ein schmaler Schlitz tat sich hie und da auf und ich probierte zuhause vor dem Spiegel aus, wieviel man dadurch eigentlich sehen konnte: es war mehr als ich glaubte.
Der Husten wollte und wollte nicht aufhören. Das Durchatmen fiel Dir schwer. Die Ärzte und Schwestern standen ratlos zusammen, weil nach genügender Antibiotika stets noch Fieber vorhanden war. Sie rätselten um die Ursache, die noch irgendwo sein musste. Am anderen Morgen holte ich in der Apotheke Echinaforce, welches empfohlen ist bei Infektionen. Die Ärzte gaben auf mein Bitten hin grünes Licht und das Fieber verschwand. Ich bat auch um Bewilligung, Dir den Tee selbst zu bringen, welcher Dir täglich, wie auch die Nahrung durch die Magensonde verabreicht werden musste. Du hattest oft grosse Schweissperlen auf der Stirn, welche ich Dir stets abwischen konnte. Immer mehr wagte ich es, positiv auf Dich einzureden, wenn auch Papa meinte, das nütze nichts, denn Du verstehest es ja doch nicht. Du warst total kraftlos und verspannt. So machte ich täglich genügend Salbei mit Johanniskrauttee. Die Pfleger nahmen Dich jetzt hie und da aus dem Bett und setzten Dich einige Minuten in einen Rollstuhl. Du hattest Mühe, den Kopf gerade zu halten und Deine Knie zitterten vor Schwäche. Auch banden sie Dich jetzt täglich in ein Stehbett, um den Kreislauf zu fördern und Deine Kräfte zu stärken. Du konntest jetzt gut alleine Durchatmen und öffnetest die Augen manchmal für kurze Zeit. Nun musstest Du die hohen Motorradstiefel im Bett tragen, welche Tag und Nacht alle zwei Stunden ausgewechselt wurden. Das bezweckte, dass sich keine Spitzfüsse bilden konnten. Es bestand die Gefahr, dass sich beim langen Liegen der Achilles-Nerv verkürzt. Der Spitalpfarrer kam auch hie und da vorbei und schmunzelte ob dem lustigen Aussehen; Niklaus mit den weissen Gummistrümpfen und den schwarzen Schuhe im Bett. Dabei entrückte ihm ein lustiger Witz, der mich trotz der ernsten Lage zum Lachen brachte. Dafür vermisste ich enttäuscht den Segen für Niklaus und so segnete ich Dich jeweils beim Abschied und wünschte, dass Gott bei Dir bleibe. Auch Willi Stolz, unser Gemeinde-Vikar besuchte Dich einmal auf der IPS und schenkte Dir trotz Deinem Schlafen einige liebe Worte. Jedoch hoffte ich auch bei ihm vergebens auf ein spontanes Segnen. Bei einer späteren Diskussion mit dem Spitalpfarrer sagte dieser mir, dass man dies persönlich wünschen müsse. Meine Zweifel, dass die jungen Priester selbst nicht mehr an die Kraft des Segnens glauben, zerstreute sich.
Wir versuchten auch, Dich mit Deinen Musikkassetten via Kopfhörer zu wecken. Die Kurven des EKG-Monitors zeigten auf, dass Musik Dich beruhigte. Auch die Körperwäsche hast Du immer unbewusst genossen. Die Schwestern versuchten stets die Lagerung zu verändern und deckten Dich jetzt mehr zu.
Der EKG-Monitor (hört Herztöne ab), der Subclaviakatheter (zentraler Venenkatheter, durch den man Flüssigkeit und Medikamente in das Blutsystem leiten kann), die Temperatursonde (misst die Körpertemperatur) und die Intubation (Tubis in Rachen und Luftröhre für die künstliche Beatmung) waren ja nun von Deiner Brust abmontiert. Das war für uns zuerst ein ganz unsicheres Gefühl. Die Kontrolle fehlte uns. Nur die Haube an der Nase und der Schlauch für die Ernährung störte Dich noch unbewusst. Deine linke Hand entkrampfte sich immer mehr und versuchte sich davon zu befreien. Schon schätzten wir die kleinen Fortschritte, z.B. dass Du jetzt beide Beine gleichmässig bewegtest, dass Du mit der flachen linken Hand die Augen ausreiben konntest, dass Du sie auch hie und da ganz klar offen hattest und Dein Husten mehr und mehr verschwand. Trotzdem sahen wir auch mitleidige Blicke vom Pflegepersonal die aussagten, dieser Junge werde behindert heimkehren, er wäre besser gestorben.
Umsomehr klammerte ich mich an die Aussagen von zwei Schwestern. Die ältere Schwester erinnerte sich an einen ehemaligen Chefarzt, der verboten habe, bei jungen Leuten Prognosen zu stellen, weil sie in der Regel eher zu schwarz ausfielen. Eine andere Schwester setzte sich im Warteraum zu mir und wollte mich vor ihrem Urlaub zuhause im Emmental aufmuntern. Niklaus erinnere sie an ihre Kollegin, welche auch so ein Schädel-Hirntrauma hatte. Sie habe sich lange Zeit kurz nach dem Essen nicht mehr erinnern können, was sie gegessen habe. Nun studiere sie jedoch weiter Medizin.
Auch die freundliche Empfangsschwester versuchte stets, mir Hoffnung zu machen. Unterdessen merkte ich, dass sie für mich wie ein Pfortenengel war. Wir konnten oft kurz plaudern und sie erklärte mir, dass sie keine Schwester, sondern nur ein gewöhnlicher “Bürogummi“ sei, welcher aber über alle Patienten Bescheid wisse.
Immer neue Gesichter wechselten sich im Empfangsraum ab. Uns gegenüber erlaubten sie schon lange grösszügige Besuchszeiten, warst Du doch ein Langzeitpatient. Im Stehbett wurdest Du immer kräftiger, auch im Sitzen im Rollstuhl. Deshalb wollte man Dich von der IPS auf die Station versetzten, nur fehlte noch ein Zimmer. Am 10. November war es dann soweit; im roten Ziegelbau bekamst Du auf der neurologischen Abteilung ein schönes Einzelzimmer mit Dusche, WC und Lavabo. Das war nach den 16 Tagen IPS ein besonderes Erlebnis für uns. Wir genossen zuerst die Freiheit und die Grösse des Raumes. Auch Du versuchtest stets, Dich zu erheben und schautest mit fragenden Blicken umher.
Einige der Schwestern haben schon oft solche Patienten erfahren und machten uns auf die kommenden langen Phasen aufmerksam, welche schwer zu ertragen sein werden. Sie rieten uns, Dir möglichst viele Bilder und Sachen, die Dir vertraut sind ins Zimmer zu bringen. So sollten Deine Erinnerungen Dich wachrufen.
Wir brachten Dir die Flugaufnahme von unserem Zuhause mit, welche wir euch Kindern auf Weihnachten schenken wollten. Anita brachte Dir den grossen Bär mit dem Stirnband und Leibchen vom FC Servette mit. Ich bat Sepp Metzger, Dir schöne Fahrrad- und Motorradposter aus dem Geschäft mitzubringen. So hattest Du immer mehr Grund, mit grossen, fragenden Augen umherzuschauen. Du wolltest Dich immer mehr und mehr aufrichten, aber die Schwäche liess Dich stets wieder in die Kissen fallen. Deine Motorradschuhe wurden immer noch fleissig ausgewechselt. Das Röhrchen an Deinem Penis wurde entnommen, weil Du stets daran zupftest. Dann nähte man Dir ein dünneres direkt auf die Blase im Bauch. Auch das störte Dich und Du versuchtest ständig das Pflaster auf dem Bauch zu lösen. Das Röhrchen in der Nase, durch das Dir die Nahrung direkt in den Magen befördert wurde, wolltest Du auch nicht in Ruhe lassen. Im Halbschlaf warst Du stets am 'Grüble' in der Nase, am Penis oder am Pflaster auf dem Bauch. Eine Schwester nannte Dich nur noch Grübeltante!
Bald wollte Dich alles besuchen kommen. Wir erlaubten es nur Deinen Freunden, weil Du noch so schwach warst und kein Wort von den Lippen brachtest. Oft war es auch erschreckend, dich anzutreffen. Nach Bewegungsversuchen bist Du oft in den unmöglichsten Stellungen dagelegen. Wie oft musste man Dir den lahmen Arm und den Wasserbeutel von irgendwoher befreien. Die Schwestern hatten es streng mit Dir und sie forderten Dich auch heraus. Beim Betten musstest Du auf einen Stuhl sitzen und schon nach einer Woche versuchten Sie, Dir pürierte Menüs zu bringen, nachdem Du schon öfters ein wenig Joghurt gegessen hattest.
Wie stolz waren Sie über den Fortschritt, als sie Dir den ganzen Teller einlöffeln konnten. Nun waren sie und Du von der Plage mit dem Röhrchen in der Nase erlöst.

Von nun an machte Dir das Essen weniger Mühe als das Sitzen. Du wolltest immer sofort wieder ins Bett. Ein Physiotherapeut kam auch, um Dir das Laufen beizubringen. Du hattest Interesse daran, nur die Schwäche liess Deine Beine kaum gehen. Wir mussten ein Paar leichte Schuhe ohne Gummisohlen bringen. Diese fanden wir bei Baumgartners: die RS-Sonntagsschuhe von Andreas passten Dir ausgezeichnet. So versuchten auch zwei Schwestern öfters mit Dir spazieren zu gehen. Ganz müde wolltest Du Dich jeweils in jedes Bett legen, das im Gang umherstand. Riefen Dir andere Schwestern den Namen, hast Du sofort die Konzentration verloren und Dein rechter Fuss blieb stets hinter dem linken hängen. Auch starrtest Du meist in die Luft und littest mit einem fragenden Blick unter diesem elenden Zustand. Ich kam jeden Vor- und Nachmittag zu Dir und redete positiv auf Dich ein. Abends ging immer Papa zu Dir, manchmal war jetzt auch Sepp Metzger mit dabei. Auch Deine Schulkollegen von Weinfelden wollten zu Dir. Einige erschraken ob Deinem Zustand, Kim aber war gefasst, weil sie schon einmal etwas ähnliches erlebt hat. Sie brachte Dir ein schönes Motorradposter mit ihrer Unterschrift als Andenken.
Schon nach einer Woche püriertem Essen brachte man Dir die normalen Menüs. Deine Freude am Essen kam wieder zum Vorschein. Das Kauen machte Dich zwar noch müde, aber der Teller wurde trotzdem meist leer, was die Schwestern sehr erfreute. Das Trinken machte Dir mehr Mühe: in kleinen Schlücken klappte es, in normalen Zügen aber verschlucktest Du Dich stets.
Nun wurde Dir Dein Zustand immer mehr bewusst. In wachen Minuten fingst Du jetzt zu weinen und zu schreien an. Meist weinte ich einfach mit und erlebte damit mit Dir eine Erleichterung. Daraufhin versuchte ich stets, Dich positiv aufzumuntern: «Deine Erholung braucht viel, viel Zeit» sicherte ich Dir bei und zählte Dir immer wieder die bereits vorhandenen Fortschritte auf. Obwohl Du kein Wort redetest, fühlte ich mich von Dir verstanden. Du teiltest manchmal ganz vertrauensvolle Blicke aus. Eine Schwester meinte einmal: «Schade, dass uns Niklaus nicht mehr seine lieben Augen zeigt.»
Du schliefest noch so viel, dass sogar Papa hie und da an Deiner Genesung zweifelte. «Er richtet sich ja nicht einmal mehr auf im Bett», jammerte er eines Abends. Ich erklärte ihm, dass es Dir jetzt bewusst sei, wo Du liegst, das Spitalzimmer sei Dir nun vertraut. Dein wütiges Schreien im Bett oder beim Essen machten mir viel mehr Sorgen. Ich begann Dich zu belehren, weil ich hinter Deinem Tun den altbekannten 'Granitkopf' vorfand. Darum brauchte ich auch harte Worte und fühlte mich von Dir verstanden. Ich sorgte aber dafür, dass sich das Personal ernstlich nach dem Schmerz im Bauch während dem Sitzen erkundigte. Es stellte sich heraus, dass die Stelle, wo das Röhrchen (Zystofix) auf die Blase genäht war, vereiterte. So wurdest Du sofort davon erlöst und bekamst Windeln. Die Schwestern hofften, dass sich die Darmtätigkeit sowieso bald normalisieren werde. So konnten wir Dir endlich auch Pyjamas anziehen, was etwas Farbe ins Bett brachte. Deine Kontrolle über die Darm- und Blasenfunktionen liess aber auf sich warten. Die Schwestern mussten immer wieder Dein Bett machen, weil Du stets die Windeln löstest und Deinen Bedürfnissen freien Lauf liessest. Dazu kam, dass Du manchmal die Windeln auch zerfetztest und unsere Mahnungen überhaupt nicht achtetest. Wahrscheinlich passierte dies alles im Unterbewusstsein. Wir verstanden nicht, wieso Du manchmal auch Deinen Kot in die Hand nahmst und Dich und das Bett damit verschmiertest. War es Langeweile, Verzweiflung oder störte es Dich einfach unter dem Gesäss, wenn nicht gerade eine Hilfe da war, die ihn entfernte? Jedenfalls war es schockierend, Dich schlafend im verschmierten Bett anzutreffen. Die Schwestern erklärten uns, dass dies jetzt eine Phase sei, der wieder neue, andere folgen würden. Zum Glück war die herbstliche Natur noch da und ich holte mir immer wieder Kraft und Hoffnung beim Hin- und Herfahren, indem ich die Stimmung der farbigen Blätter und die der kühl-warmen Winde, sowie die entsprechenden, immer blasser werdenden Wolkenbilder in mich senken liess.

Die Jahreszeiten und das Leben haben ihre Phasen, sowie auch die Genesung von Niklaus nun ihre Phasen durchleben muss, tröstete ich mich.
Immer wieder fragten mich die Ärzte, ob unser Sohn noch nicht zu uns gesprochen habe, was ich stets verneinen musste. Die Leute von draussen zweifelten fast mehr als wir selbst; sie sahen ja nicht, was für einen gelösten, normalen Ausdruck Du während Deinem ewigen Schlafen ausstrahltest. Nur wenn Du wach warst, wirktest Du oft leidend und verstört. Jetzt drücktest Du häufig Deinen Kopf auf die Matratze oder sogar an das Gitter. Schweissperlen sammelten sich jeweils auf Deiner Stirn, die wir ständig abtrockneten.
Wir schlossen daraus, dass Du Kopfweh oder beinahe Krämpfe hattest. Ich nahm das Kneipp-Leinentüchlein mit und legte es Dir feucht auf die Stirn. Manchmal war es Dir willkommen, manchmal störte es Dich! Dann folgte ein Ausschlag an der linken Stirn und wir glaubten, dass es eine Allergie von der Spitalwäsche sei. So besprach ich mit den Schwestern, dass ich farbige Frotteeleintücher mitbringe. Wir hofften, dass sie auch Dein Gemüt aufmöbeln würden. Sogar die Schwestern und wir hatten das ewige 'Weiss' satt und freuten uns am 'Rosa' und dem 'Blau'.
Komplikationen gab es aber mit dem Wechseln: da neue Schwestern nicht wussten, dass die farbigen Leintücher privat sind, landeten sie immer wieder in der Wäscherei, wo sie stecken blieben. Deshalb beendeten wir diese Aktion nach zwei Wochen wieder. Du machtest ja auch tropfenweise Fortschritte: Du konntest jetzt schon viel besser gehen, Joghurt löffeltest Du jetzt selber aus und auch die Zähne konntest Du selber putzen, wenn man Dich stützte beim Stehen. Ich verstand zwar nicht, wieso Du dies nicht sitzend erledigen durftest, denn das Stehen machte Dich so müde.
Auch in der Ergotherapie befolgtest Du die Anweisungen und Befehle der Therapeutin (mehr oder weniger).
Nur warst Du immer wieder zu schnell müde, der Weg dorthin im Rollstuhl war schon eine Anstrengung. Ich redete stets auf Dich ein, dass dieser Zustand nicht ewig bleiben und dass alles wieder einmal besser werde. Wolltest Du mal eine sinnlose Tätigkeit in der Ergotherapie verweigern (z.B. den Tisch abwischen, der nicht beschmutzt war) erklärte ich Dir, dass dies nur Therapie sei um zu erkennen, ob Du Befehle aufnehmen und ausführen könntest. Die Ergotherapeutin hat Dir auch eine Schiene aus Gips für Deine rechte, gelähmte Hand angefertigt. Sie sollte bezwecken, dass die Handballe in Form bleibt, falls sie wieder einmal zum Arbeiten gebraucht werden kann.
Auch diese Schiene hast Du öfters losgelöst und wir glaubten, dass dies eine Reaktion von verzweifelter Langeweile in wachen Momenten war.

Dein Ausschlag an der Stirn hat sich von selbst gelöst und auch Deine Krämpfe im Kopf ergaben sich. So legten wir Dir wieder öfters den Kopfhörer mit Musik nicht direkt aufs Ohr, aber in die Nähe aufs Kissen.
Manchmal drücktest Du sämtliche Kissen unter Deinen linken Arm und nistetest umher. Es schien so, als könntest Du nicht genug Kissen haben. Eine Schwester sagte, dass es wohl bald soweit sei, dass Niklaus einmal selber aus dem Bett wolle und am Boden liegen bleibe.
Zwei Tage später war es tatsächlich geschehen. Daraufhin wurdest Du im Bett angeschnallt. Man wollte nicht das Risiko eingehen, dass Du Dich noch mehr verletzen würdest. Für Deinen Bewegungsdrang war der breite Gürtel nicht angenehm. Deshalb vereinbarten wir mit den Kollegen und mit Frau Baumgartner, Dich fast rund um die Uhr zu 'begleiten'. Die Schwestern staunten hie und da um unsere Besorgtheit und die energische Oberschwester machte uns zwei Frauen sogar Vorwürfe, Niklaus zu verwöhnen, ihn falsch zu behandeln. „Burschen in diesem Alter wollen keine Zärtlichkeiten mehr“, behauptete sie. Wir wehrten uns dagegen und machten ihr klar, dass wir uns nur dem momentanen Zustand anpassten. Erziehung zur Selbständigkeit sei in dieser trostlosen Situation fehl am Platz. Da Du noch nicht mit uns reden konntest, massierten wir Dir öfters den Rücken, die Füsse und Beine, um so mit Dir in Kontakt zu kommen.
Die aggressive Phase wollte nicht aufhören. Das Mittagessen gab ich Dir regelmässig ein, weil das für die Schwestern zur Belastung wurde. Hie und da erlebten Dich die Kollegen beim Nachtessen, wie Du schriest oder sämtliches Geschirr auf dem Servierbrett fortschmeissen wolltest. In solchen Momenten schämte ich mich schon ein wenig und hoffte, dass dies vorübergehen werde, wie auch das ewige Grübeln in der Nase und am Penis.

 

Das erste Wort

Deine Cousine Brigitte war einmal mit ihrer Mutter auf Besuch gekommen, die dann aber nur weinen konnten. Später nach drei Wochen kam Brigitte alleine und staunte, wie sich Dein Aussehen positiv verändert hatte. Wir genossen die gemeinsame Besuchsstunde; Du sassest ganz wach im Rollstuhl. Auf einmal meinte ich Dich ganz dumpf «Mama» sagen zu hören, nur konnte ich es fast nicht glauben und sagte den Ärzten nichts.
Am anderen Morgen, es war der 1. Dezember, forderte Dich Schwester Nadine nach dem Duschen auf, ihr «Hoi» zu sagen, weil Du ja einen ganz wachen Eindruck ausstrahltest. Tatsächlich gabst Du ihr Antwort, und nachdem sie Dich wieder ins Bett begleitete, wollte sie nochmals den Gruss «Guete Morge» hören, den Du zu ihrer Freude in heiserer Stimme sagtest.
Am Mittag überstürmten mich die Schwestern mit der guten Nachricht, was ein Aufatmen in mir löste. Das dumpfe Wort «Mama» von gestern war also doch gefallen; das zweite, welches ich von Dir hörte war «Hunger!» Ich hatte erstmals frische Pfannkuchen bei mir, die gerade willkommen waren.
Es war Mittwoch: Andi und Marcel hatten frei und erschienen auch schon um 14 Uhr. Kannst Du Dir die Freude vorstellen, als Du ihnen endlich ihre Namen sagen konntest, wenn auch langsam und heiser?
Zuhause, im Bekanntenkreis und in der Verwandtschaft und natürlich auf Deinem Stock hoffte und freute man sich aufs Neue. Dein Wortschatz war wieder da, wenn auch manchmal in einem Durcheinander und langsamen Tempo.
Du sprachst ganz viel Schriftdeutsch und begannst zu rechnen. Du verhieltest Dich wie wenn Du in der Schule wärest. Die Rechnungen liessen Dich nicht frei, immer wieder zähltest Du Zahlen zusammen, dividiertest sie und wehe, wenn sie nicht aufgingen. Dann schriest Du in voller Lautstärke und erwartetest von uns Hilfe. Du zähltest auch in 1-er, 2-er, 5-er und 10-er Reihen auf. Der Putzfrau antwortetest Du auf französisch, den Pflegerinnen im österreichischen oder hochdeutschen Dialekt. Den Kollegen versuchtest Du von Deinem Motorrad zu erzählen. Mich fragtest Du zuerst öfters «Was isch denn passiert?» Auf meine Aufklärung antwortest Du jeweils mit einem «Warum denn en Töffunfall?»
Zwischendurch weintest Du wieder mehr und mehr. Jetzt ist auch der Winter eingebrochen und auf Deinem Fensterbrett strahlte das Adventsgesteck von Baumgartners und unser Weihnachtsstern hoffende Atmosphäre aus. Die Schwestern wollten, dass Du selbständig essen lernst, was Dir noch Mühe machte. Sie verlangten nun auch, dass Du bei Bedürfnissen läutest. Immer wieder versuchten wir diese 'Geschäfte' auf der WC-Schüssel zu erledigen. Dein Wille war da, aber das 'Können' wollte nie gelingen, was Dich deprimierte. Denn immer noch passierte das verschmierte Bett, worüber Du Dich jetzt selber hie und da ärgertest. Beim Durchlüften des Zimmers wurde es Dir manchmal zu kalt und Du klagtest darüber. Ich meinte einmal, dass Du Dich wehren und wenigstens dann ein Langarmpyjama anziehen solltest. Ich schmunzelte über Deine erste Bemerkung: «Chasch denn, wenn´s di nöd verstönd.»

Natürlich diskutierten wir mit den Schwestern über dies und das in Deiner Gegenwart und Du zogst jeweils die Kissen über die Ohren. Die energische Schwester behauptete, Du könntest viel mehr, wenn Du wolltest; darum würdest Du das Zuhören verweigern! Ich hörte von anderen Schicksalsgenossen, dass man das Gerede rundum noch nicht aufnehmen und ertragen könne am Anfang eines Traumas. Ich nahm eine Strickdecke mit und deckte Dich zu, wenn Du wieder einmal beklagtest: «Es ist kalt!» Hauptsächlich bei den Spaziergängen zur Ergotherapie legten wir sie um die Knie, da es bei den Liften oft lange Wartezeiten gab.
Einmal kam Grossmutter und Tante Fina auf Besuch, als wir gerade im Rollstuhl bereit zur Therapie waren. Beide Frauen erschraken und weinten vor lauter Erbarmen. Als Grossmutter Dir die Stirn betastete und fragte ob Du Kopfweh hättest, schriest Du ganz ungeduldig: «uf d´Siete!», was sie noch mehr erschreckte. Sie konnten sich Deine Schwäche und Müdigkeit nicht vorstellen; niemand wusste ja, wie schlecht Du Nachts schliefst. Dein Tag- und Nachtrhythmus war ja noch nicht da. Ich schickte sie dann in die Spitalkappelle um zu beten, während wir die Pflichten in der Ergotherapie erfüllten.
Ganz müde zurück im Bett hast Du ihnen dann besser gefallen. Ich tröstete meine Verwandten stets mit dem Fall von dem Nachbarskind Edith und munterte sie auf, dass die Zeit heilen werde.
Am 12. Dezember war Dein 19. Geburtstag. Schon am Mittag kamen Freunde von Dir und wollten Dich erfreuen und etwas festliche Stimmung bringen. Dir war es gar nicht zum Feiern und Du schriest sie an: «Er spinned alli!»
Herr Braun organisierte mit den Jugendlichen von Kronbühl-Wittenbach ein Ständchen zu Deinem Geburtstag. Wir wollten mit Dir absichtlich früher Abendessen, was uns fast nicht gelang. Du schliefst so tief, wie auch nachher. Du wolltest nicht, dass die Schar im Zimmer feierte und so sangen sie zur Freude von Personal und anderen Patienten auf dem Stock viele Advents- und Glaubenslieder. Deine sieben treuen Kollegen sassen um Dein Bett.
Nach dem Beenden des schönen Singens verabschiedeten sich einige der Jugendlichen persönlich von Dir. Andere hatten Angst, Dir in diesem fremden Zustand zu begegnen. Herr Braun wollte mit Dir ins Gespräch kommen, Du antwortetest mit Zahlen, die Dich zum Rechnen zwangen und Herrn Braun zum Schmunzeln brachten. Ich dankte ihm und den Jugendlichen für ihre Bemühungen. Draussen war nämlich wildes Schneegestöber und das Herkommen vom warmen Zuhause fiel bestimmt nicht allen leicht. Die Kollegen blieben noch länger und Du antwortetest ihnen auf ihre Fragen nach Deinem Motorrad. Am späten Abend traf Dich Papa deprimiert und müde an. Ein junger holländischer Pfleger war abends meist für Dich verantwortlich und umsorgte Dich pflichtbewusst und verständnisvoll, auch wenn Du das Bett wieder einmal voll gemacht hattest, erzählte Papa. Er war auch jener, der tagsüber hin und wieder reinschaute, nur um zu sehen, wie es Dir geht. Wahrscheinlich hat er so einen Fall noch nie miterlebt, umsomehr traf es ihn, weil er im gleichen Alter war. Als Herr Bühler, Dein zweiter Chef aus Bischofszell Dich einmal besuchen kam, zogst Du die Decke über den Kopf. Ich weiss nicht, ob Du Dich vor ihm geniertest, denn es war geplant, dass Du bei ihm während einem halben Jahr Motorrad-Mechanik erlernst. Wir unterhielten uns jedenfalls über die grossen, gefährlichen Motorräder. Beim Verabschieden sagtest Du dann heiser und langsam: «Danke». Mir tat leid, dass er nun die ganze Prozedur mit der Versicherung und Lohnauszahlung übernehmen musste.
Die Ärzte planten, mit Dir einiges zu unternehmen. Sie wollten herausfinden, an welcher Stelle die Nerven zum rechten Arm zerrissen waren. Anschliessend sollte Dein Gehirn nochmals geröntgt werden, um die Schwellungsrückgänge zu messen. Nach der Absprache blieb ein dunkelhäutiger junger Neurologe am Bett ergriffen stehen, schüttelte den Kopf und meinte, so ein schöner, junger Mann!
Zwei Tage später begann das Experiment. Anita konnte mir die medizinischen Begriffe erklären. Du bekamst nachmittags eine schwache Dosis Narkosemittel, weil Du unbedingt ruhig bleiben musstest. Ganz weiss im Gesicht und im starren Schlaf stiess man Dich im Bett durch die unterirdischen Gänge zum Operationsraum, wo man Dir farbige Flüssigkeit ins Rückenmark einspritzte und Dich anschliessend auf den Kopf gestellt röntgte. Mich hiess man im Flur zu warten. Voller Angst dachte ich mir, wenn der Bub nur wieder erwacht! Du hättest nämlich nicht schlafen dürfen, sondern nur ruhig sein sollen. Es machte den Schwestern und Ärzten grosse Mühe, Dich vom Bett auf ihr vorbereitetes Liegebrett zu schieben.
Draussen beobachtete ich verschiedene Patienten, welche leidend neben ihren vollen Gläsern sassen, die vor den Röntgenaufnahmen getrunken werden mussten. Mir fiel auf, dass es viele ausländische Patienten beider Geschlechts waren und machte mir Gedanken, ob sie wohl von Missständen, finanziellen Nöten und Heimweh krank wurden.
In den aufliegenden Zeitschriften versuchte ich mich von dem Gedanken, Du könntest nicht mehr erwachen, zu befreien. Plötzlich hörte ich ohrenbetäubende Schreie. Das muss Niklaus sein, ahnte ich sofort und schon bat mich eine Schwester, Dich zu beruhigen. Du warst während dem Röntgen erwacht, die Flüssigkeit in den Nervenbahnen schmerzte, die Stellung im Kopfstand verwirrte Dich und das Experiment musste abgebrochen werden. Du tobtest und schriest trotz meinem wohlwollenden Zureden wild umher. Erst draussen im Gang überfiel Dich dann wieder die Müdigkeit. Nur einige Male noch rebelliertest Du mit den Worten «i schüsse alli abe!» Die in der Nähe anwesenden Patienten schmunzelten mit mir und ich versuchte Dich zu trösten, dass ja alle Dir nur helfen wollen. Ohne das Röntgen wisse man aber nicht wie. Wir mussten auf das zweite Vorhaben warten, Du kämpftest mit dem Schlaf und suchtest wie ein Kind immer wieder den Blickkontakt mit mir.
Um sicher zu gehen, dass Du bei der Gehirntomographie ruhig bist, entschloss man sich, Dir eine Vollnarkose zu verabreichen. Ein ganz sympathischer Narkosearzt versuchte es Dir zu erklären, dass nur ein kurzer Nadelstich in die Venen schmerzen werde. Doch Du fingst wieder an zu toben, man schob Dich in ein zufällig freies Zimmer, wo ich und ein Pfleger Dich mit Kräften ruhig halten mussten, damit der Arzt Dir das Narkosemittel am linken Arm einführen konnte. Nachdem das Experiment in der Tomographie-Röhre geglückt war, wurden wir spät abgeholt und trafen um 18.30 Uhr wieder gut im Zimmer auf dem 5. Stock ein. Du solltest nun im Bett eine Stunde sitzen, weil sich die eingespritzte Flüssigkeit im Gehirn lösen musste. Du hattest aber kaum die Kraft um zu sitzen. Mit der Angst, die farbige Masse im Gehirn hinterlasse noch mehr Schaden als schon da war, fuhr ich hungrig und müde nach Hause. Papa fand Dich dann den ganzen Abend schlafend vor.
Gespannt warteten wir auf das Ergebnis der Röntgenaufnahmen. Nach der wütenden verfielst Du in eine depressive Phase. Du wünschtest stets, sterben zu können. Dein Appetit veränderte sich, nur mit Mühe und Bitten nahmst Du weniges ein. Nur Mandarinen und Orangen zwischendurch schmeckten Dir noch. Ich versprach Dir, an Weihnachten heimgehen zu dürfen. Du glaubtest aber nicht daran. Eines Abends, als Papa Dich nach einem Wunsch fragte, nanntest Du eine Pistole. Papa antwortete im trockenen Witz, er wüsste nicht, wo eine zu holen wäre.
Einmal begannst Du das 'Gegrüsst seist Du Maria' zu beten und ich half mit als Du stocktest. Dann brachte ich Dir am nächsten Tag die Kassette mit der Jodlermesse mit. Das gemeinsame Hören tat auch mir wohl.
Die Spezialärztin vermittelte mir dann eines Tages gute und schlechte Nachrichten. Von den Röntgenbildern konnte man entnehmen, dass die Schwellung in der linken Hirnhälfte abgenommen habe und keine Narben und auch keine Verschwammungen hinterlassen hatte.
Da die Röntgenaufnahme des Oberarms nicht voll geglückt sei, wisse man nur, dass der Nerv, welcher für die Fingerbeweglichkeit sorge, hinten am Rückenmark ganz abgerissen sei. Ob die anderen Nerven gerissen oder gequetscht seien, wisse man nicht. Deshalb unternahm man nochmals einen anderen Versuch. Mit elektrischen Nadeln suchte ein Spezialist an Deinem ganzen rechten Arm vergeblich nach Reaktionen. Du sagtest dabei müde: «Was mached er jetzt, es nötzt jo doch alles nüt!»
Du enttäuschtest die Schwestern mit Deinem Streiken beim Essen. Wollten sie Dich mit hartem Ton zurechtweisen, fingst Du an zu wüten. Einmal forderte Dich eine Schwester auf, aufrecht hinzustehen, bevor Du Dich ins Bett legen durftest. Du zahltest es mit einem Schlag über ihre Haare zurück und nanntest sie eine 'Blödi'. Dann wurde im Verantwortlichenteam beraten, Dir Mittel für die Psyche zu verabreichen. Diese machten Dich zwar ruhiger, aber noch viel müder. Das Laufen war eher ein 'Schlarpen', der Appetit verschlechterte sich noch mehr. Eines Abends versuchte die mütterliche Pflegerin Gina Dich im Bett zu füttern. «Heute musst Du nicht aufstehen», sagte sie, «dafür musst Du wiedereinmal richtig essen.» Ich sehe heute noch, wie Du ihr die Freude machtest und den ganzen Spaghetti-Teller einlöffeln liessest. Dieser Hunger war aber von kurzer Dauer. Du riefst aus: «I glaube ke bitz, dass i a de Wiehnacht hei cha, i glaubs ke bitz!» Die Abmachung mit Dir, dass ich nun vormittags nicht mehr komme, fiel mit einem unidealen Personalwechsel zusammen. Die vertrauten Schwestern fehlten Dir, die neuen wussten nicht recht, wie sie Dir zu begegnen hatten. Ich entschloss mich, mit der Oberschwester und der Ärztin eine vorzeitige Entlassung zu besprechen.

 

Endlich wieder Zuhause

Nachdem ich merkte, dass sie mir die Pflege nicht zutrauten, wehrte ich mich, denn ich wusste, dass Frau Baumgartner mir helfen würde. Zudem hatte ich ja eine Krankenschwester zuhause, nur war sie momentan mit Prüfungsaufgaben gestresst. Auch Du äussertest immer öfter den Wunsch, heimgehen zu dürfen, nur wollte es die Oberschwester persönlich von Dir hören. Sie war immer noch der Meinung, dass wir Dich zu sehr verwöhnten. Mit ihrer Härte machte sie Dich aber nur bockiger und depressiver. Sogar die ältere, mütterliche Schwesternhilfe Gina, welche mir immer Mut und Hoffnung zusprechen konnte, fand jetzt keine Worte mehr, weil Du stets sterben wolltest. Deshalb willigte der Oberarzt unserem Vorhaben ein, weil auch er der Meinung war, dass Du unter einem Spitalkoller leidest. Er riet mir, mich zu schonen und mir von aussen helfen zu lassen. Ich kaufte noch alle nötigen Pflegeutensilien ein.
Am Vormittag des 18. Dezember holten Papa und ich Dich ab. Schwester Rita gab mir noch Windeln, Matratzenschoner und Plastikhandschuhe mit. Du konntest den Abschied vom Spital nicht einmal geniessen, weil Du so müde warst und schliefst. Papa trug Dich vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl wieder ins Auto. Auf der Heimfahrt öffnetest Du erst bei der Garage Kaufmann die Augen. An Deiner Miene merkte ich, dass Du Dich an die Gegend erinnertest und Dich freutest. Zuhause musste Dich Papa schon wieder schlafend aus dem Auto heben und in das Haus tragen. In der Stube haben wir das Sofa zu einem Bett vorbereitet, Dein Zimmer im oberen Stock tauschte nun Anita mit ihrem in der Wohnung, in das wir ein zweites Bett hinstellten, um Dich nachts zu begleiten und zu bewachen. Wir stellten auch einen elektrischen Ofen hinein, um stets warm zu haben. In die Küche stellten wir den alten, bequemen Polsterstuhl von unserem Schlafzimmer. So konnte die Heimpflege beginnen und ich liess mir helfen: Frau Baumgartner glättete mir alle Wäsche, Frau Wehrle durfte ich die Flickete bringen und Frau Dörig bot mir an, die Wäsche zu tumblern. Da Du ja trotz den Windeln immer wieder nasse Leintücher machtest, war ich sehr froh darum, weil sie im Estrich schlecht trockneten.
In der ersten Nacht fragtest Du mich in hochdeutscher Sprache: «Darf ich bei Dir schlafen?» «Ich komme besser zu Dir», sagte ich und verstand Deinen Wunsch in Deiner tiefen Traurigkeit. Es kam mir zwar vorerst ungewohnt und seltsam vor, doch schätzte ich Deine Offenheit. Deine depressive Stimmung klang nicht so schnell ab. Trotzdem hörten wir auf, die Medikamente zu nehmen wegen Deinem Klagen über Kopfschmerzen.
Immer noch wolltest Du nichts essen und trinken. Ich telefonierte dem Naturarzt Sigrist von Teufen und schilderte die Not. Er sagte, es sei schade, dass ich nicht schon zu Beginn des Falles kam, er habe sehr gute Tropfen, welche ihm selber schon nach einem Fahrradunfall halfen, wieder zu Kräften zu kommen. Die per Post angekommene Medizin half tatsächlich, langsam aber sicher. Wir setzten die Hälfte der Epilepsiemittel, welche Du von Anfang der Krankengeschichte nehmen musstest ab. Herr Sigrist riet mir dies, weil jene die Fortschritte im Gehirn hemmten.
Ich wagte seine Ratschläge zu befolgen, weil ich die Anzeichen von Epilepsieunfällen von Judith her kenne. Wären bei Dir Neigungen dazu vorhanden gewesen, hätte bei Deinem Toben im Spital längst etwas passieren müssen. Von Papa bekam ich zwar keine Unterstützung in diesen Entscheidungen. Jedenfalls versuchte ich alle Tricks indem ich Dir leckere Nahrung zubereitete. Wir machten uns Sorgen wegen Deinem Gewichtsverlust. Auch Deine Füsse und Beine waren unterkühlt. Dieses Problem behoben wir mit einem Heizkissen. Um nicht stets an Deiner Seite stehen zu müssen, stellten wir Dir eine Glocke neben Dich, mit der Du uns rufen konntest, wenn Du Deine Bedürfnisse spürtest. Hie und da löstest Du Dein Wasser in die Flasche, manchmal war es schon zu spät oder es wollte einfach nicht gehen. Du warst immer noch mit Rechnungen und Zahlen konfrontiert, jedoch nicht mehr allzu häufig.
Nachdem ich Dich in den ersten Tagen von der Stube in die Küche und ins Schlafzimmer geführt hatte, machtest Du einmal im Küchenstuhl gelangweilt die Bemerkung: «Es gibt doch noch andere Zimmer.» «Aha», sagte ich, «willst Du denn auch ins Kinderzimmer?» Du liessest Dich gerne zum Bett von Franzjosef führen und verfielst dort wieder in einen Schlaf. Da merkte ich, dass Du die Welt erweitern wolltest, dass Dich Langeweile drückt. Nur mit Musik konnten wir Dir die Zeit erleichtern. An Deinem Bett steckte nun das von Papa angefertigte Holzgitter, damit Du und die neue nordische Decke nie herausfallen würden. Papa und ich wechselten im Nachtwachen ab. Anfangs meist so um 3 Uhr, so dass jedes einige Stunden durchschlafen konnte. Du hattest Deinen Tag-/Nachtrythmus überhaupt noch nicht gefunden, den Du auf der Intensivstation verloren hast. Jetzt begriffen wir, wieso Du so aggressiv warst im Spital, wenn man Dich forderte. Du wolltest viel schlafen, weil Du Nachts fast mehr wach warst. Immer musste man auf Dein Jammern eingehen. Bei Deinen Selbstmordgedanken erklärte ich Dir stets, dass ich nicht glaube, dass es Dir auf der anderen Seite des Lebens besser gehe, wenn Du nicht von Gott geholt wirst. Ich erklärte, dass wir Dir ja helfen und dass es einmal besser werde. Würdest Du aber den Tod erzwingen, können wir Dir beim Warten im Jenseits nicht mehr helfen.

Weihnachten rückte näher und ich erklärte Dir, dass es für mich das grösste Geschenk sei, wenn Du ohne Theater Essen und Trinken würdest. Am späten Abend, nachdem ich Dich vom Trainer ins Pyjama wechselte, meldetest Du Hunger an. Ja endlich, «was möchtest Du denn haben», fragten wir, «Pommes frites» war Deine Antwort. So ging ich gerne Pommes frites zubereiten, Hauptsache war, dass Du etwas isst. Der Appetit war zwar doch nicht so gross, aber Papa mochte sie auch gerne. Am anderen Tag versuchten Frau Baumgartner und ich, Dich statt zu duschen, einmal zu baden. Mit vereinten Kräften mussten wir Dich in und aus dem Bad heben, so schwach warst Du. Aber es gefiel Dir und ein langes «Schööön» brach Dein Schweigen. Danach fielst Du wieder müde in einen tiefen Schlaf. Dein Trotzen beim Essen und Trinken liess immer mehr nach und wir freuten uns trotz allem auf Weihnachten. Die Geschenke hatte ich bei den vielen Fahrten zum Spital irgendwie zwischendurch besorgt, Weihnachtspost schob ich halt dieses Jahr auf und Weihnachtsguetzli und Birnenweggen wurden uns von Verwandten und Bekannten in Fülle geschenkt. Deine Wünsche nach der körperlichen Nähe von Mama oder Papa in der Nacht liessen immer mehr nach. Du brauchtest sie nur für kurze Zeit und befahlst jeweils ganz offen: «Jetzt chasch wieder goh.»

Deine Kollegen telefonierten oft und fragten nach Deinem Wohlergehen, Du wolltest sie aber nicht mehr sehen. Ich empfahl ihnen, eine Besuchspause über die Festtage einzuschalten. Ich dankte ihnen für ihre Besorgtheit und sagte, dass ich mich gern melden würde, sobald Du wieder nach ihnen fragst.
Das Verweilen im Polsterstuhl in der Küche vertrugst Du immer länger, da leistete Dir auch Bless, unser Hund, Gesellschaft. Dieser legte Dir jeweils ungefragt den Kopf auf Deine Knie und langsam öffnete sich Dein trauriges Sinnieren, Du nahmst den Kontakt mit ihm auf, streicheltest ihn hie und da oder warfst ihm die von mir aufgelegten Hundebiskuits zu. Plötzlich hiess es dann «i will wieder is Bett.» 

 

Weihnachten 1990

Am Heiligabend schenkten wir Dir ein grosses Schaffell, das Dir gut tun sollte. Auch ein goldenes Kreuz mit Ketteli übergab ich Dir, das Dich erinnern soll, dass wir dem am Kreuz verstorbenen Jesus unser schweres Leid schenken können. Als wir vor dem Weihnachtsbaum zu singen begannen, riefst Du «Nöd singe», und begannst zu weinen wie schon lange nicht mehr. Natürlich konnte auch ich nicht anders und legte mich neben Dich auf das Krankenlager, Anita legte sich auf die kurze Seite des Couch und ich hielt auch ihre Hand wie Deine und so weinten wir zu Dritt.
Franzjosef und Judith schenkten sich ihren neuen Spielsachen und vermissten das Singen nicht. Papa verzog sich still eine Weile ins Schlafzimmer und kam bedrückt wieder heraus. Ob sich auch bei ihm einmal Tränen lösen konnten?
Beim gemeinsamen Nachtessen in der Küche entrutschte bei Dir dann das erste Lächeln oder vielmehr ein 'Pfnochsen', was für uns das schönste Weihnachtsgeschenk war. Papa antwortete Franzjosef mit einem Witz, als er sich so fest über seinem blauen Morgenrock freute. Dass es so kleine Morgenröcke gebe, staunte er und Papa meinte, das sei eben noch ein junger und klein gewachsen. Anita kam mit in die Mitternachtsmesse und fand, dass ich gut gehandelt habe und dass der Abend trotz allem schön verlaufen sei. Herr Braun fragte nach Deinem Wohlbefinden und freute sich, dass Du erstmals gelacht hast. Verwandten und Nachbarn gaben wir bekannt, dass wir keine Besuche wünschten sondern die Zeit für uns beanspruchen und Niklaus nicht ermüden wollen.
Du mochtest immer grössere Portionen essen, nur liessest Du Dich ungeniert füttern. Ich wollte warten, bis Dir dies selbst zu blöde wurde. Deinen Hunger und Durst in der Nacht benutzte ich zum Aufholen Deines Nahrungsmangels; Du kamst uns immer dünner vor. Gedörrte Aprikosen und Apfelschnitze assest Du nachts und trankst dazu gerne kalte Milch. So besserte sich auch die Blutzirkulation und das Heizkissen unter den Beinen und Füssen wurde überflüssig. Wir versuchten mit Dir einmal ein Sprudelbad zu nehmen aber der Lärm störte Dich zu stark. So legten wir Dir den Ohrenschutz, welchen Du einmal Papa zum Fräsen geschenkt hast, auf. Du wirktest so wach nach dem Bad, dass Frau Baumgartner und ich diese Prozedur täglich wiederholten. Du hast nun auch aufgehört, hochdeutsch zu reden und auch die Rechnungen liessen Dich mehr und mehr in Ruhe. An einem frühen Morgen riefst Du, «Hilfe, i cha nüme melche.» Ich erklärte, dass das jetzt auch nicht mehr von Dir verlangt werde. Du fingst an, mehr zu reden, fragtest auch einmal nach dem Weg in die Alp. Du hast auch versucht fernzusehen, aber kehrtest Dich immer wieder davon ab. Deine Brille aber wolltest Du immer noch nicht tragen. Mit dem Wasserlösen ging es besser in die Flasche, denn auf der Toilette gelang es immer noch nicht. Merkwürdig schien mir, wie oft man Dich schlafend antraf, die Hosen ausgezogen und der Stuhl rutschte ohne Dein Dazutun heraus, so dass ich ihn oft auf einem Papier auffangen konnte. Meine Bekannten staunten stets, dass Du in dieser Angelegenheit keine Hemmungen hattest. Uns hat es einfach zur Offenheit gelehrt. Nach dem Mittagessen schliefst Du regelmässig im Schlafzimmer und Papa ging auch mit, weil er feststellte, dass es dort ruhiger war. Ich bereitete Dir jetzt oft eine Erdbeer- oder eine andere Creme mit viel Rahm zum z'Vieri vor, weil dies viel Kalorien besass und es Dir schmeckte. Zugleich war es ein wertvolles Abgeben mit Dir, denn spielen konntest Du ja nicht. In den wachen Nachtstunden las ich Dir oft sinnvolle Gedichte oder Gebete vor aus den vielen Büchlein, die Dir geschenkt worden waren. Eine sehr schöne Kassette von Trick passte auch so gut zu unserem leidenden Warten. Du hattest einfach Probleme, im wachen Zustand alleine zu sein, weil Du nicht wusstest wohin mit Deinen Gedanken. Wir stellten fest, dass Du das Vergangene immer wieder vergassest. Ratespiele wurden auf einmal interessant: «Was denkst Du für ein Tier», fragtest Du öfters in der Nacht. Fragte man Dich, waren es immer der Gepard oder ein Himbeerwurm. Das brachte uns jeweils zum Lachen.
An einem Festtag spielte ich mit Judith und Franzjosef Tschau-Sepp und Elfimal am Boden vor Deinen Augen; Du schautest interessiert zu. Ich testete Dich: die Zahlen kanntest Du, von den Jasskarten jedoch nur s'Zehni. Wir waren schon zufrieden. Zwei Tage später wolltest Du am späten Abend Tschau-Sepp spielen statt schlafen. Ich stellte den Stuhl neben Dein Bett, holte einen Zollstab und die Jasskarten und versuchte es gespannt mit Dir. Zur grossen Freude spieltest Du tatsächlich richtig mit, nach drei Spielen warst Du jedoch todmüde, konntest aber nicht schlafen. Dann schlug ich vor, diesen Fortschritt zu feiern und ging mit Dir in die Küche. Ich briet Brotwürfeli im Butter und kochte eine Oxtailsuppe, die Dir auch schmeckte, obwohl es Mitternacht war. Ich zählte wiedereinmal alle Fortschritte auf, die Du seit dem Unfall am 25. Oktober erlebt hast und machte Dir Hoffnung, dass das noch jede Woche besser komme. Ich versuchte mit Dir alles Positive zu sehen und freute mich auf das gemeinsame Spielen. Ich stellte auch noch Pommes Chips hin und schmunzelte im Stillen, als Du jene selber reichlich zu Dir nahmst. Danach hast Du wenigstens wieder einige Stunden geschlafen.
Am anderen Tag verlangte ich, dass Du selbständig essen lernst. «Weisst Du», sagte ich, «die Pommes Chips letzte Nacht konntest Du ja auch selber zu Dir nehmen.» Diese Bemerkung nützte, Du konntest es tatsächlich, Dein Wille wurde reifer. Nur ab und zu merkte ich, dass Dich das Essen mit der linken Hand ermüdete, so liessest Du Dir manchmal gerne nachhelfen. Uns war es ja wichtig, dass Du genug Nahrung zu Dir nahmst. Das Tschau-Sepp spielen machte Dir immer mehr Spass und Du vertrugst es täglich länger: von zehn Minuten bis zur halben Stunde hast Du diese Leistung gesteigert. Das Lesen gelang noch nicht recht, aber in den Fernseher schauen konntest Du jetzt auch wieder eine kurze Weile. Wir besorgten im Spital einen Rollstuhl, um mit Dir im Freien zu spazieren. Die holprige Strasse machte Dich aber so müde, dass wir es nicht wiederholten.
Nach Neujahr wünschtest Du die Kollegen wieder zu sehen. Sie kamen gerne, Du warst bei ihrem ersten Besuch müde im Bett und sie leisteten Dir im Zimmer am Boden sitzend Gesellschaft. Von den aufgetischten Weihnachtsguetzli und dem Eiercognac probiertest auch Du ein wenig, was für die Kollegen neu war. Sie brachten Dir das vergrösserte Foto im Bildrahmen, welches Dich an die Skiferien mit ihnen in Braunwald erinnern sollte. Auch Herr Vikar Stöckli kam zur gleichen Zeit zu Dir und freute sich an Deinen Fortschritten.
Die Kollegen kamen danach jedes Wochenende und Du konntest mit Ihnen am Tisch Tschau-Sepp spielen, wenn auch im Polsterstuhl. Da konntest Du von Herzen mitlachen, schätztest die aufgetischten Pommes Chips und wolltest Sirup dazu, während die Freunde Bier oder Coca Cola vorzogen. Pralinés mochtest Du nicht essen und tauschtest sie gegen Gesalzenes ein. Wir schlugen Dir vor, die vielen süssen Sachen den Besuchen von Kollegen anzubieten. Auch Deine Pfadigruppe kam Dich zweimal besuchen. Beim zweiten Mal hatten auch sie das Vergnügen, mit Dir Karten zu spielen.
In der ersten Januarwoche mussten wir mit Dir erstmals wieder in die Physiotherapie. Der Weg ins Spital und das Umsteigen in den Rollstuhl machte Dich jedoch schon so müde, dass Du nachher in der Therapie nicht schön mitgemacht hast. Vielleicht wurdest Du zu früh aus Deinem Mittagsschlaf geholt, jedenfalls resigniertest Du bei all den Übungen und äusserste wieder den Wunsch, lieber zu sterben. Da Du ja am 9. Januar nach Bellikon musstest, machte ich dem Therapeut klar, dass wir auf die Therapiestunden verzichten würden. Das Gleichgewicht war ja schon viel besser und wir laufen ja zuhause auch umher. Auch er zeigte sich erfreut über den verbesserten Zustand und war der gleichen Meinung. Er fand es gut, dass wir beim Naturarzt Hilfe holten. Die Schiene an der Hand empfahl er aber weiterhin zu tragen. Auf dem Heimweg schliefst Du wieder erschöpft im Auto ein.
Am Dreikönigssonntag stellte Onkel Emil bei seinem Besuch fest, dass Du lesen konntest und anschliessend auch erzählen, was Du gelesen hast. Die Brille benutztest Du beim Beginn des Spielens wieder. Wir freuten uns alle sehr und Onkel Emil meinte, dass Du bestimmt im Sommer wieder heuen hilfst. «Nei, da mach i nöd gern», gabst Du zur Antwort! Er predigte Dir dann, dass Du doch Deine Genesung schätzen solltest und alles gerne helfen müsstest.
Nun versuchten wir oft, Dich auf dem WC Dein Geschäft machen zu lassen. Anfangs mussten wir Dir jeweils eine Decke über die Knie legen, weil Du frorst. Auch konnte man Dich nicht alleine lassen, weil Dein Gleichgewicht noch immer versagte. Du hieltest oft den Kopf schräg und wir fürchteten, dies bleibe Dir. Auf unser öfteres Korrigieren wehrtest Du Dich meist, dass sei so für Dich schief, wenn Du den Kopf nach unseren Wünschen hieltest. Das Lösen von Stuhl und Wasser auf der Toilette gelang Dir hie und da, meistens aber nicht. Das Gehen aber ging immer besser und einmal wolltest Du ins Freie; wir zogen Dir erstmals Jeans und Jacke an und es kam uns seltsam vor. Im Brunnenhaus machtest Du mit Anita und mir einen Tschau-Sepp und wolltest danach gleich wieder ins Haus. Das Sitzen auf dem harten Bank schmerzte und ermüdete Dich. So warst Du wieder ganz schlapp in der Stube in den Couch gefallen. Das Läuten mit der Glocke klappte wunderbar. Ich erinnere mich an einen Mittag, als Du Wasserlösen musstest. Es wollte wieder nicht kommen, obwohl Du gemeint hast es pressiere sehr. Ich holte einen Krug Wasser wie schon öfters, und liess davon in ein Glas rinnen. Zufällig kam Papa und Franzjosef dazu: einer nach dem anderen musste schnell aufs WC, nur bei Dir nützte das Reizen lange nichts. Wenigstens konnten wir wiedereinmal zusammen lachen.
Der Abreisetag nach Bellikon näherte sich und wir freuten uns, weil uns das ewige Jassen und Nachtwachen ermüdete. Die Ärztin vom Spital fragte uns telefonisch nach dem Wohlergehen von Niklaus und meinte nach meinen Antworten auf ihre Fragen, dass wir das gut machten. Sie war froh, dass wir die Psychenmedikamente absetzen konnten und hatte auch nichts dagegen, dass wir uns von einem Naturarzt berieten liessen.

 

Rehabilitation in Bellikon

Ich zeigte Dir am Vortag Prospekte von Bellikon und bereitete Dich vor. Nach dem Morgenessen zeigte ich sie Dir wieder, weil ich merkte, dass Du wieder alles vergessen hattest. Auf Deine vielen 'Warum' erklärte ich Dir, dass Dir mit intensiven Therapien geholfen werden will. Ich erzählte, wie Edith Lehmann dort Fortschritte gemacht habe. Mit gepackter Reisetasche verreisten wir am Vormittag mit dem neuen Auto mit Diesel, das wir im Dezember gekauft hatten. Schon auf der Autobahn von St.Gallen nach Gossau fragtest Du: «Wohi gömmer denn?» Du vergassest unser Ziel immer wieder, Du wolltest auch bald schon schlafen und wir liessen den Sitz nach hinten. Dein grosses Schaffell diente nun als weiche Unterlage. Im Rollstuhl von Bellikon schoben wir Dich in den Empfangsraum, wo wir erwartet wurden. Viele Fragen mussten beantwortet werden. Die zukünftigen BetreuerInnen wurden vorgestellt. Die Auskunft über unsere eigenständigen Massnahmen von den Medikamenten brachten den Stationsarzt auf bestürzte Ausdrücke. Er traute dem Naturarzt nicht so wie wir, das weiss man ja. Ich erklärte, dass ich ja Erfahrung genug hätte und wisse was Absenzen wären, welche aber bei Niklaus nie vorkamen. Ich erzählte ihm auch von der Not, die mich dazu gezwungen hat und beteuerte, dass die Ärzte in St.Gallen orientiert seien.
Dir wurde von den Schwestern ein Haustrainer angezogen und anschliessend in Dein Zimmer gebracht. Da warteten noch zwei junge Burschen, Sandro und Ernst hiessen sie. Du bekamst das Bett am Fenster mit Aussicht auf das Land.
Papa und ich wurden noch zur Oberärztin gerufen. In einer kurzen Sitzung erklärte sie uns alle voraussichtlichen Massnahmen, die auf Niklaus und uns warteten. Sie wies auf psychische Folgen hin, die auch bei uns Eltern auftreten können und bot uns eine Selbsthilfegruppe an, die sich in Bellikon monatlich einmal trifft. Wir erzählten ihr von unserem behinderten Mädchen und glaubten, aus Erfahrung der Behinderung von Niklaus gewachsen zu sein. Zudem wäre uns der Weg nach Bellikon zu weit.
Die verletzte Psyche von Anita hat bereits eine Ärztin gefunden. So wünschte ich nur, dass Du vor der Armoperation speziell geschont werdest und erzählte von den verschiedenen Phasen, die wir mit Dir erlebten. Ich erwähnte meine Angst, die letzte depressive Phase wiederhole sich, wenn Du zu streng gefordert wirst. Das wäre doch ein unglücklicher Start zur Narkose und zur Operation. Frau Doktor verstand meine Ängste und betonte, dass die vielen verschiedenen Phasen ein gutes Zeichen dafür seien, gesund denken und reagieren zu können. Sie versicherte uns, die Patienten aus grosser Erfahrung richtig zu fördern.
Wir kehrten in Dein Zimmer zurück und verabschiedeten uns von Dir mit Erleichterung. Wir wussten Dich in besorgten Händen von lieben Schwestern und Pflegern. Auf dem Weg durch den Aufenthaltsraum sahen wir viele Patienten, die uns noch mehr leid taten.
Auf dem Heimweg wählten wir ein Mittagessen in einer Autobahnraststätte und trösteten einander mit den noch schlimmeren gesehen Fällen. Zuhause angekommen, überfiel mich dann eine starke Müdigkeit und Traurigkeit: alte gewohnte Bilder von Dir tauchten auf, denen die gegenwärtigen, fragwürdigen entgegenstanden. Drei Tage hielt diese Verfassung an und ich liess den Tränen stets den Lauf. Mein Bauch fühlte sich jetzt erst ganz verspannt an und schmerzte. So verrichtete ich nur die nötigsten Hausarbeiten und entspannte mich beim Teetrinken, Liegen, Schlafen und Weinen.

Dann war es ja schon wieder Freitag und Papa holte Dich mit Anita aus Bellikon ab. Uns fiel sofort auf, wie frohgelaunt Du heimkehrtest. Du zeigtest uns, wie Du Deine Jeansjacke selbst an- und ausziehen und Deine Schuhe schnüren konntest. Wir freuten uns mit Dir über diese Fortschritte. Doch vor dem Schlafen wünschtest Du wieder zu sterben. Dann hast Du aber gut ausgeschlafen und die Windeln waren erstmals trocken. Am Samstagnachmittag kamen Marcel und Andi auf Besuch und Du hattest viel Spass mit ihnen beim Kartenspiel. Auch Baumgartners verweilten Dich mit Spielen.
In der Nacht darauf wechselten wir die Windeln um 4 Uhr und machten Gedächtnistraining. Du wusstest nicht mehr, wer am Samstag auf Besuch war. Dafür schliefst Du dann wieder bis 9 Uhr. Am Nachmittag spielten wir ausser mit Jasskarten auch Quartett.
Bei Schneegestöber fuhren Papa und ich Dich wieder nach Bellikon. Du musstest Sirup mitnehmen, weil Du noch kein Mineralwasser trinken wolltest. Wir erfuhren vom Pfleger, dass Du beim Zähneputzen und Dich Frischmachen sitzen durftest, dass man Dir beim Essen hilft, weil man wisse, wie Trauma-Patienten stets ermüden. Von zuhause erkundigten wir uns einmal nach Deinem Wohlbefinden. Du wartest gespannt auf die Armoperation im Kantonsspital St.Gallen und warst voller Hoffnungen wie wir und viele andere auch. Der Spezialist versprach uns eine 70% Verbesserung. Am Freitag, den 18. Januar fuhr Dich ein Chauffeur mit Pflegerin von Bellikon nach St.Gallen. Um 10 Uhr trafen wir uns im Spital wie abgemacht; Du wirktest etwas verwirrt und müde in Deinem Rollstuhl. Die Operationsvorbereitungen währten bis 18 Uhr. Wir benutzten die Zeit zum üblichen Jassen; Du fühltest Dich fremd in dem grossen 8er-Zimmer.
Die Schwestern hatten hier nicht so viel Zeit für Dich wie in Bellikon. So durftest Du bis Montag heimkehren, was Du sehr schätztest. Daniela Metzger und Anita machten mit Dir am Samstag erstmals das Spiel des Wissens und freuten sich über Dein gewohntes Wissen, nur kamen die Antworten etwas langsamer. Vikar Stöckli kam auch vorbei und wünschte Dir mit seinem Gespräch und Segen viel Glück bei der Operation am Montag. Dein Appetit war sehr gross. Am Sonntag freutest Du Dich über den Besuch von Ralph und Stefan. Du hast erstmals mit Franzjosef Lego gespielt und Dich auf diese Art verweilt.

21. Januar 1991, endlich war es soweit: von 11.30 - 12.30 Uhr operierte Dich Dr. Stober am Arm. Um 14 Uhr bist Du auf der Intensivstation erwacht. Ich telefonierte um 15 Uhr ins Spital und bekam die Erlaubnis, Dich um 16 Uhr zu besuchen.
Ich erwartete Dich mit einer Schiene oder einem Gestell am Arm, doch nichts hat sich verändert. Ich war vorerst zufrieden, dass Du wieder voll bei Sinnen warst und reden konntest. Ich fürchtete, die Narkose versetze Dir einen Rückschlag. Dann fragten wir uns zusammen, wie das Operieren wohl gelungen ist. Ich sah, dass das rechte Bein wohl rasiert worden ist, aber keine Verletzung hatte. Sie wollten doch einen Nerv aus dem Bein holen, um ihn in der Schulter einzusetzen.
Dann kam ein Arzt und orientierte uns über den misslungenen Operationsversuch. Die Nervenbahnen und Muskeln seien alle so verkalkt gewesen, dass Sie das Vorhaben unmöglich vollziehen konnten. Man habe zwar zuerst versucht, den Kalk weg zu spachteln, doch zu viele Blutäderchen wären verletzt worden. Deshalb habe man wieder zugenäht und hoffe auf eine gute Verheilung der Wunde. Der Kalk sei ihnen ein Rätsel, so etwas hätten sie noch nie angetroffen. Ich fragte, ob man vielleicht zulange gewartet habe, was sie jedoch verneinten. Es sei üblich, dass man drei Monate warten dürfe, ausserdem habe es der Zustand des Patienten nicht früher erlaubt. Ja, das alles hast Du auch verstanden und fingst an zu weinen. Ich begriff Dich sehr gut, denn jetzt war auch die letzte Hoffnung dahin. So weinte ich mit Dir über diese Enttäuschung und Du warst froh darüber. Ich höre heute noch, wie Du mit heiserer Stimme sagtest: «Du bisch e liebi Mamä, wenn au mitbrüelisch.» Dann wolltest Du spielen, lagst Du doch schon seit 14 Uhr da und hattest einen trockenen Mund. Darum schlugst Du vor, ein Tier zu denken und ich müsse es dann erraten. Anstatt nein oder ja zu sagen, wolltest Du den Daumen hochhalten oder auf die Seite legen. Das brachte mich wieder zum Lachen und ich erfüllte Dir den Wunsch.
Erst am Dienstag um 9 Uhr durftest Du auf Zimmer 902 im neunten Stock. Nun galt es nochmals eine Enttäuschung zu verarbeiten. Zum Glück war Deine Cousine Elisabeth gerade auf diesem Stock tätig, welche Dich zu trösten versuchte. Die Folgen der Narkose haben Dich natürlich noch müder werden lassen.
Einige Patienten im Zimmer gaben auf Deine wiederholt gleichen Fragen geduldig Antwort. Mit einem Gärtner vom Engesser konntest Du über Deine Gemeinde reden, mit zwei anderen Patienten über Motorräder.
Am Mittwochnachmittag kam das Lehrerehepaar Bilger und Vikar Stöckli auf Besuch, um 18 Uhr Thomas und Visko, am Abend noch Herr und Frau Studerus mit Sepp und Frau Gämperli. Allen tat es leid, dass die Operation nicht gelungen war. Deine Traurigkeit wurde immer stärker.
Am Donnerstag überkam Dich ein starkes Heimweh, die vielen Besuche von Deinen Freunden schätztest Du sehr. Thomas und Ralph kamen nach Feierabend, später auch noch Cousin Martin mit Ruth. Am Freitag war der letzte Pflegetag von Elisabeth. Herr Baumgartner, Thomas und Stefan erfreuten Dich mit einem Besuch. Am Samstag überraschte Dich Frau Studerus mit Adrian, Frau und Herr Baumgartner. Du wolltest nie lange mit den Besuchen diskutieren, stets forderste Du sie auf, mit Dir Tschau Sepp zu spielen. Natürlich kam auch Papa jeden Abend. Am Sonntagnachmittag besuchten Dich Dein Cousin Guido Koller mit Kollege Ruedi. Die Beiden halfen uns im Aufenthaltsraum jassen, so verweilten wir zwei gemütliche Stunden und Du warst wieder sehr müde. Dies zeigte sich jeweils in der Sprache, die schleppender wurde, sowie auch im blassen Aussehen.
Am Montag wurde dann das Pflaster an der rechten Schulter entfernt: die Wunde war schön verheilt. Dein rechter Arm musste noch im Netz am Körper befestigt werden. Um 13.30 Uhr wurden wir entlassen und kehrten froh und doch etwas enttäuscht nach Hause zurück. Wir erhielten auf den 4. Februar einen Termin, um die Fäden zu entfernen. So durftest Du bis dahin daheim bleiben, was Du sehr zu schätzen wusstest. Deine gelähmte Hand mitsamt Arm wurden Dir jetzt noch stärker bewusst und Du warst stets am jammern.
Wir trösteten uns gemeinsam mit der Hoffnung, dass die Nerven in der Schulter vielleicht nur gequetscht sind; dass die Verkalkung bestimmt nur von der Flüssigkeit der verquetschten Muskeln und Nerven des Aufpralls herführen. So spielten wir mit der Hoffnung, dass sich vielleicht die Nerven mit den Jahren wieder erholen würden, dass es vielleicht gut war, dass nicht operiert werden konnte.
Am Mittwoch kamen Andi, Marcel und Paddy von 15-18.30 Uhr um mit Dir zu spielen. Am Donnerstag hast Du einen Brief an Lehrer Bilger geschrieben. Besuche von Frau Rutz, von Marcel, Thomas, Paddy und Andi verkürzten Dir die Langeweile. Am Freitagmorgen besuchte Dich Frau Dörig und abends Martin Krieg. Am Samstag verwöhnten Dich wieder Lukas, Andi, Paddy und Ralph. Auch Stefan Kaufmann kam zu Dir und half Dir eine Stunde jassen. An Gesprächen rund um das Motorrad warst Du nicht mehr gross interessiert. Du konntest Dich nicht mehr an die gemeinsamen Fahrten erinnern.
Nach den vielen gefreuten Besuchen, auch von Deiner ehemaligen Pfadigruppe konntest Du gut ohne Baldrian schlafen und hattest nie mehr nass. Am Sonntag kamen Baumgartners jassen. Dann unternahm ich mit Dir den ersten Spaziergang. Du hieltest Dich an meinem Arm fest und so liefen wir langsam beinahe bis zum Bänkli und zurück. Das war ein wohltuender Fortschritt und Du schliefst auch gut danach.
Schon am Montagvormittag halfen Dir Stefan Dörig und Stefan Baumgartner wieder Tschau Sepp spielen. Nach dem Mittagsschlaf fuhren wir ins Spital um Deine Fäden auf der Schulter zu entfernen. Beim Warten freute ich mich, wie Du den Beobachter vom Tisch nahmst und mich auf die kurzen Artikel wie 'Bravo' oder 'Ohalätz' hinwiesest. So unterhielten wir uns erstmals über etwas anderes als nur über Dich. Du versuchtest alleine zu Dr. Stober zu laufen. Dein Gleichgewicht war noch wackelig und darum hielt ich Dich noch hinten am Gürtel fest. Erstmals erlebte ich wie die anderen Leute seltsam schauten. Nach Beendigung der Arbeit meinte Dr. Stober, da lasse sich bestimmt in einem Jahr noch etwas konstruieren. So kehrten wir wieder mit etwas mehr Hoffnung nach Hause.
Am Dienstag fuhr Papa und Anita wieder nach Bellikon, von wo Du am Freitag wieder gerne heimkehrtest. Du schätztest es, dass Frau Baumgartner Dich schon wieder mit Jassen verwöhnte.
Tante Cilia kam abends mit Brigitte und Ueli auf Besuch und sie staunten über Deinen guten Zustand. Weil es Fasnacht war, musstest Du an diesem Wochenende auf den Besuch Deiner Kollegen verzichten. Dafür half Dir wiederum das liebe Mitbewohner-Ehepaar Baumgartner. Am Sonntag kam Reinhard Braun kurz vorbei und traf Dich erstmals im wachen Zustand; auch er staunte über Dein Wohlergehen. Im Scheegestöber fuhren Papa und ich mit Dir am Abend wieder nach Bellikon. Mir wurde bewusst, dass Du mit Deinen Zimmerkollegen nicht viel reden konntest: Sandro schien stumm und verwirrt zu sein, sass im Bett und starrte in einen kleinen Fernseher vor sich. Beim Begrüssen lachte er laut. Er und auch Ernst waren gleich alt wie Du und mussten viel schlimmere Folgen ihrer Verkehrsunfälle ertragen. Ernst hatte zwar ein gutes Gedächtnis, aber die verletzte Motorik erschwerte ihm das Sprechen und Gehen.
Am Dienstag vernahmen wir, dass Du sehr unter Heimweh littest und so installierte man Dir ein Telefon ins Zimmer. Danach freutest Du Dich jeden Tag auf den Anruf von zuhause um 18 Uhr. Trotzdem plangerteste Du auf den Freitag, wenn Papa Dich jeweils um 15.45 Uhr abholte. Am Montag darauf riefst Du uns mitten im Nachmittag vor Langeweile selber an. Ich telefonierte dann mit Herr Bilger und bat ihn um Aufgaben für Dich. Du wolltest stets Deinen Geist beschäftigen, denn Du wusstest sonst nicht wohin mit den Gedanken. Das gegenwärtig Erlebte und Gesprochene vergassest Du immer wieder.

 

Die ersten Schritte 

Am Sonntag, den 24. Februar konntest Du erstmals alleine laufen: das war eine freudige Erlösung! Die Woche darauf erhieltest Du mit Matthias Möckli einen neuen Zimmerkollegen, mit dem Du gut reden konntest. So brauchtest Du die Telefongespräche mit Mama gar nicht mehr so sehr.
Am Mittwoch waren Anita und ich zum Pflegetag eingeladen. Schon um 915 Uhr kamen wir an und lernten Deine Zimmerkollegen, Pflegerinnen und Pfleger kennen. Es war sehr beeindruckend, wie mit den verschiedenen Therapien geholfen wurde:

08.00 Uhr: Gruppentherapie mit Gedächtnistraining
09.30 Uhr: Ergotherapie bei Frau Bay
11.30 Uhr: Mittagessen
12.00 -
13.15 Uhr: Mittagsruhe in besonderer Lage
           (Kissen zwischen den Beinen wegen der Hüfte)
13.30 Uhr: Physiotherapie bei Frau Dutli
14.30 Uhr: Lymphdrainage bei Herr Grundböck
15.15 -
16.00 Uhr: Gespräch mit Frau Dr. Müller.
 
Danach spielten wir mit Dir und Ernst Tschau Sepp bis 17 Uhr.

So konnten wir über die Wochenenden mit Dir über Deinen Alltag in Bellikon diskutieren. Du musstest ja auch ein Tagebuch führen. Das Schreiben mit der linken Hand machte Dir Mühe und so fielen die Buchstaben zittrig aus.
Am Sonntag, 3. März fuhren wir erstmals auf Besuch zu Deiner Gotte. Die Woche darauf brachte Überraschungen: Du bekamst Briefe von Kim, Shiwa und Visko. Mit Freude erzähltest Du mir davon am Telefon, das erst am Mittwoch um 21.30 Uhr klappte. Am Freitag darauf war die Hauptver-sammlung des Turnvereins im Hirschen; Du wurdest eingeladen und Paddy brachte dich um 24 Uhr heim.
Natürlich wartete ich gespannt auf Dein Heimkommen, denn Papa und ich begleiteten Dich nachts stets noch abwechslungsweise. So leertest Du Deinen 'Kropf' von Deinen Eindrücken und weintest wieder einmal. Einige fragten Dich nach Deinem Arm. Die Invalidität wurde Dir neu bewusst unter den vielen gesunden Kollegen. Zudem war Dein Ellbogen steif geworden und Du konntest den Arm nicht mehr gerade hängen lassen. Du fingst zu jammern an: «Ich will doch nicht mein Leben lang diesen Arm nachschleppen, abschneiden sollte man ihn, ja wegnehmen, er nützt mich ja doch nichts mehr.» Ich versuchte Dich zu trösten, dass Dr. Stober uns doch noch etwas Hoffnung machte; ich meinte, für das Auge sei ein lahmer Arm mit Hand noch lange schöner anzusehen als ein Stumpen mit eingezogenem Ärmel. So schliefst Du in Tränen ein und erwachtest am Morgen mit einem moralischen Tief. Am Nachmittag schliefst Du die Hauptversammlung aus und es ging Dir wieder besser. Thomas, Ralph und Paddy kamen eine Stunde vorbei und jassten mit Dir.
Am Sonntagmorgen um 10.15 brachten Ri-Ri und Murmel Dir die letzte Pfadiüberraschung und spielten mit Dir bis zum Mittag. Am Nachmittag kamen Tante Hildegard und Onkel Jakob mit Familie auf Besuch und staunten und freuten sich über Deinen guten Zustand, als Du nach dem langen Mittagsschlaf erschienst. Am Dienstag erreichte ich Frau Dr. Müller telefonisch und bat sie, etwas zu unternehmen, damit der Ellbogen wieder gebogen werden kann und dem auffällig höher werdenden Knochen hinten am Rücken Beachtung geschenkt werde. Ich erzählte ihr von Deiner miesen Stimmung am Freitag und Samstag. Am Mittwoch telefoniertest Du uns, dass Hansjörg Keller bei Dir auf Besuch war. Wenn ich Dich nach den verspiesenen Menüs fragte, konntest Du Dich nie daran erinnern. Ich konnte Dir mitteilen, dass Anita die Abschlussprüfung gut überstanden habe. Am Freitagabend kamen Kellers auf Besuch und halfen uns jassen. So wurde ganz klar, wieso Du Dich denn so auf die Wochenenden zuhause freutest: immer kam jemand auf Besuch und half Dir spielen. An diesem Samstag hast Du zwei Brieflein an die Pfader gemorst. Das fiel Dir leichter als das Schreiben. Das frühere Wissen war zum Glück noch da. Nach dem Mittagsschlaf wolltest Du Deine ehemalige Gruppe Leu beim zukünftigen Pfadiheim besuchen. Ich fuhr Dich hin, einige Pfader begleiteten Dich nach Hause und spielten noch mit Dir im Gartenhaus. Nach dem Abendessen gab es noch einen Jassabend mit Baumgartners.
In der Nacht darauf stellte ich wieder einmal fest, dass Du doch einiges vom alten Wissen vergessen hast. Von 3 - 5 Uhr hattest Du stets wache Zeit und wolltest reden. Dann musstest Du mal niessen und ich sagte 'Gesundheit'. Dann warst Du ganz erstaunt und behauptetest, Gesundheit sagt man doch beim 'Husten'. Ich lachte Dich aus und befahl Dir zu überlegen, was wäre, wenn ich jetzt ständig husten müsste, niessen könne man mit Nasenputzen wieder gut abstellen. Du verstandest es im Ernst nicht und ich bedauerte es, hoffte aber, dass die Erinnerung an diesen gewohnten Brauch später wieder auftauchen werde.
Am Sonntag waren wir dann bei Grossmutter zum Mittagessen eingeladen, der 'Weihnachtsbesuch' wurde nachgeholt. Dein Schläfchen war auch dort zu machen, nachher langweiltest Du Dich.
Am Abend kam Anita mit nach Bellikon. Am 20. März rief Frau Dr. Müller wegen einem Termin mit Dr. Reinfried an. So vereinbarten wir den Freitagnachmittag zu einem Gespräch mit dem Neuropsychologen, um Dich anschliessend mit nach Hause zu nehmen.
Dr. Reinfried war ein netter, wirklich friedlicher Mann, der uns schonend beibringen wollte, dass Niklaus sein Kurzzeitgedächtnis verletzt hat. Er erzählte uns von den Auswirkungen, von den Therapien, die Niklaus stets mit Wegkarte und Zeitplan sich merken muss.
Eine Schwester wollte Dir das Jassen abgewöhnen und lernte Dich das UNO-Kartenspiel. Sie behauptete, die Jasskarten seien von einem unchristlichen Menschen erfunden worden und sei deshalb ein Teufelspiel. Wir stellten fest, dass auch das UNO-Spiel süchtig machen konnte.
Wegen den aufbauenden Tropfen vom Naturarzt entstand auch einmal ein Streitgespräch zwischen mir und dieser Schwester. Sie glaubte ganz sicher, dass Niklaus im Willen Gottes leiden müsste und wir dieses Leiden nicht mit Tropfen, die bei Mondschein beschwört wurden, verkürzen dürfen! Ich erklärte ihr, dass diese Tropfen von Kräutern seien, welche Gott zum Wohl der Menschen wachsen lasse. Ich als naturverbundene Bäuerin vertraue nun fest dieser Naturmedizin und fände es schade, dass die allgemeine Medizin nicht mehr zur Zusammenarbeit und Ergänzung mit der Homöopathie bereit sei. Unser Naturarzt sandte mir auf mein Verlangen für sie eine Beschreibung über die Herstellung von homöopathischen Mitteln.
Am Samstag hast Du wieder zwei Dankesbriefe gemorst. Am Nachmittag liefst Du erstmals mit Papa's Stock zum Pfadiheim, wo die Gruppe Leu Pizza backten. Visko hatte Dich eingeladen. Er stellte Dir einen Stuhl vor den selbstgebauten Backofen, weil Du das Umherstehen noch gar nicht ertragen konntest. In der rechten Hüfte schmerzte es Dich und Du ermüdetest rasch. So genossen alle dieses Beisammensein. Nach dem Schmaus begleiteten sie Dich nach Hause und halfen Dir eine Stunde Tschau Sepp spielen. Nachher bist Du in Deiner Pfadiuniform eingeschlafen. Dafür wolltest Du am späten Abend um 23 Uhr wieder jassen.
Am Sonntag kamen Konrads auf das Mittagessen und halfen spielen bis 18 Uhr. Du löstest erstmals wieder Kreuzwort-rätsel mit Herrn Konrad (zwei Stück). Am Dienstag erreichte ich Dich wieder erst um 21.30 Uhr am Telefon (18 Uhr war unsere vereinbarte Zeit). Du warst noch am Spielen im Gang. Du erinnertes Dich erstmals an Dein Mittagessen, d.h. an die Kartoffelstockpyramide, auch die vier Pizza's bei der Pfadi vom Samstag sind noch in Erinnerung. Während dem Gespräch wurde mir bewusst, dass Du im Bildgedächtnis suchen musst und es jetzt sofort findest, wenn man Dich darauf hinweist. So empfanden wir dies wieder als einen Fortschritt.
Dank den Ostern bekamst Du ein verlängertes Wochenende. Papa holte Dich am Hohen Donnerstag. Am Karfreitag kamst Du erstmals mit in den Gottesdienst um 10 Uhr. Judith und Franzjosef freuten sich. Am Nachmittag kamen Alder's Buebe und halfen Dir jassen. Am Karsamstag besuchten Dich wieder Deine Kollegen vollzählig und Du hast erstmals in der Runde mitdiskutiert. Nachher wurde natürlich gejasst und gelacht.
Das war ein erfreuter Fortschritt. Am Ostersonntag fuhren wir mit der Familie Baumgartner nach Lehmen und genossen gemeinsam ein feines Mittagessen. Das war eine kleine Belohnung für die stete Hilfe im Hause. Natürlich wolltest Du nicht lange auf das Jassen warten.
Am Ostermontag kamen Heers auf Besuch. Auch Hansueli traf ein und das Jassen mit den drei Herren lief zackig. Du wurdest mit Unterhaltung zu sehr verwöhnt. So begann halt am 2. April wieder der Ernst des Lebens in Bellikon. Wir hatten zwar den Eindruck, dass es dort mit einigem Personal in Pflege und Therapie auch lustig zu und her ging. Am Freitag holten Dich Herr Stillhart und Patrick ab, weil Papa und ich zur Diplomfeier von Anita im Kinderspital eingeladen waren. Du gingst wie abgemacht zu Frau Huber die Haare schneiden. Den Feierabend aber verbrachtest Du bei Baumgartners mit Jassen.

 

Traumende

Am Samstag kamst Du ohne weiteres mit zur Kirche nach Tübach und wolltest noch fast zum Pfarrer den Arm segnen (heilen?) lassen. Du sagtest am Sonntag erstmals, dass Du kein Traumgefühl spürest. Bis jetzt glaubtest Du nur zu träumen und wartest auf den Wecker, der Dich wach rütteln sollte, um arbeiten zu gehen. Das wäre also ein gut fünf Monate langer Traum gewesen.
Wir besuchten vormittags die OFFA in St.Gallen. Du trafst einen Pfadi-Kollegen und unterhieltest Dich mit ihm. Mir fiel auf, dass Du beim Stillstehen Probleme bekamst und darum stets von einem Fuss auf den anderen wechseltest. Nach dem langen Mittagsschlaf um 15.30 Uhr konntest Du Dich ohne Hilfe an nichts mehr von der Frühlingsausstellung erinnern.
In der Woche darauf betontest Du jeweils am Telefon, dass Du jetzt kein Traumgefühl mehr verspürst. Am Donnerstag telefonierte wiederum Frau Dr. Müller und wollte am 18. April einen Termin vereinbaren, um mit allen Therapeuten und Ärzten Bilanz zu ziehen und über Deine Zukunft zu reden.
Bei der Heimfahrt am Freitag warst Du eingeschlafen und kamst sehr müde heim. Am Samstag machten wir trotzdem ein Blustfahrt nach Chur, Frau Baumgartner kam mit. Mama wollte auf das Raten und Drängen von Tante Cilia eingehen und der Einladung vom bekannten Missionar und Heiler Müller aus Deutschland folgen (was man in der Not nicht alles macht!?) Ganz skeptisch verfolgten wir den Wortgottesdienst mit dem versprochenen Heilungs-Segen. Die vielen Diener mit den weissen Handschuhen stimmten uns fragwürdig. Von einem grossen Chor wurden die vielen frohen einfachen Lieder unterstützt. Die Predigt enttäuschte uns, mir taten die anwesenden Kinder leid. Kurz nach Schluss wurden Kassetten offeriert, während Müller privat begrüsste und zu trösten versuchte. Natürlich wünschte er Niklaus, dass Gott die Lähmung von seinem Arm nehme, aber unser Glaube war zu skeptisch. So gingen wir um eine Erfahrung reicher nach Hause und schätzten unsere Kirche um so mehr. Deine Enttäuschung liess Dich aber nicht gut schlafen.
Am Sonntagabend nahm Dich Hansjörg Keller mit nach Bellikon, weil er in der Nähe arbeitete. Am späten Telefonanruf von Dienstagabend wusstest Du nichts mehr vom Wochenende, aber Du wusstest das Menü von heute Mittag!!
Am Donnerstag, den 18. April war dann die grosse Sitzung um 10 Uhr in Bellikon. Es wurden kleine Zukunftsaussichten aufgetischt. Das verletzte Kurzzeitgedächtnis werde Niklaus hindern, etwas Neues zu lernen. Zudem kritisierten sie Deinen Charakter ziemlich negativ. Du bist eben kein Diplomat. Ich als Mutter bekam den Auftrag, aus Niklaus ein selbstständiger Hausmann zu machen. Im Haushalt sollte er möglichst viel mithelfen. Ich fand es übertrieben, als man sagte, dass Du es mit der Orientierung auf der Strasse an fremden Orten schwer haben wirst. Nur schon ein Vogel könne Dich verirren. Ich meinte, dass Du bestimmt noch soviel Verstand haben wirst und die Leute nach der Richtung fragen könntest. Mich stutzte es, als ich zur Antwort bekam, dass die Leute heutzutage immer weniger dazu bereit wären.
Wir durften Dich nach Hause nehmen und Du wolltest den freien Freitag ausnutzen. Du wolltest ins Geschäft zu Herr Studerus, ich fuhr Dich morgens hin und holte Dich nach zwei Stunden wieder. Nach dem langen Mittagsschlaf versuchten wir es nochmals für zwei Stunden. Es verlief super, Du konntest Ersatzteile auspacken und einräumen; aber Du warst sehr müde. Du bekamst noch ein grosses Trinkgeld für einen 'Osterhasen'. Am Samstag löstest Du Aufgaben von Herr Bilger und schriebst Ernst, der in einem Arbeitsheim landete, einen Brief. Von 14.30 - 18 Uhr war die Kollegenrunde da und Du warst mit dem verlängerten Wochenende sehr zufrieden. Doch nachts und am Morgen kam ein moralisches Tief zum Vorschein. Dann trafst Du Lehrer Egli nach der Kirche und Du freutest Dich über sein Interesse. Nach dem Mittagsschlaf besuchten wir kurz Dein Götti im Bauel, der über Dein Wohlbefinden staunte.
In der Woche darauf bekamst Du vor dem Schlafen Baldrian anstatt Tabletten. Am Dienstag kam ein neuer Kollege, mit dem Du gut diskutieren konntest. Am Mittwoch kam Post von Dir. Auf der Karte hiess es in zittriger Schrift «Heute habe ich Schreibschrift gelernt». Das war wieder ein erfreulicher Fortschritt. Nachdem Du am Freitag wieder müde heimgekommen bist, fuhren wir am Samstag in die Alp. Es hatte noch viel Schnee aber wir genossen es trotzdem. Du machtest auch dort einen kurzen Mittagsschlaf. Zufrieden fuhrst Du am Sonntag mit Papa nach Bellikon und fingst an, die Tage zu zählen. Nur noch zweimal diese Wochenendfahrten hiess es auch für uns. Die Telefone klappten nicht mehr so oft, Du warst stets am jassen. Diesen Freitag konntest Du mit Hansjörg heimfahren.
Am Samstag lud Dich Visko zur Pfadiübung mit der Gruppe Leu in der Steig ein. Ich fuhr Dich hin, danach liefst Du aber heim. Am Sonntagnachmittag verwöhnten Dich erstmals Barbara und Monika Koller mit Spielen. An diesem Abend fuhren wir zum letzten Mal, beinahe genüsslich, mit der gewohnten volkstümlichen Sendung zu dritt nach Bellikon.
Erstmals sass Mama am Steuer. In der folgenden Woche schriebst Du vielen Bekannten Karten und teiltest so Deine naheliegende Heimkehr mit. Am Donnerstag war um 15 Uhr die letzte Therapie und Du hast den ganzen Abend mit Jasskollegen (Mitpatienten) Abschied gefeiert.
Am Freitag, dem 10. Mai war es nun soweit. Du hast die 19 Wochen Rehabilitation überstanden. Anita und Mama holten Dich ab. Wir erfuhren, dass man mit Dir in den letzten drei Ergotherapiestunden Einhänderschreibmaschinentraining gemacht hat. Du bekamst das Lehrbuch 'Maschinenschreiben für Einhänder'. So freute ich mich, dass wir Dir unsere Schreibmaschine nicht vergebens mitgegeben haben. Auch eine zweite Schlinge gaben sie Dir für Deinen Arm, der nun weich gepolstert hochgelagert werden konnte. Wir erhielten die Anweisung, dass Du am 13. Mai um 11 Uhr im Bürgerspital St.Gallen erscheinen musst, um Termine für ambulante Physio- und Ergotherapie zu vereinbaren. Dein Tessiner Zimmerkollege verlangte noch Deine Adresse. So verliessen wir das Zentrum fast feierlich, während sich die vielen Angestellten und Patienten den alltäglichen Pflichten und Aufgaben widmeten.
Auf dem Heimweg genossen wir zusammen in der Autobahn-Raststätte Forrenberg ein feines Mitttagessen. Mir wurde bewusst, dass Anita ebensoviel Trost und Schonung brauchte wie Du. Du warst zu sehr zum Mittelpunkt geworden. Zuhause freuten sich alle über unsere Heimkehr.

 

Endlich wieder Zuhause

11. Mai: Es war Regenwetter und Du langweiltest Dich, so dass es wieder einmal Tränen gab. Am Mittag entdecktest Du 3mm Kraft im Arm. Das gab uns Antrieb, weiterhin zu hoffen. Am Nachmittag gingst Du mit Papa den Acker ausmessen. Am Muttertag bist Du nach der Kirche mit den Geschwistern heimgelaufen. Wir legten nachts weiterhin Umschläge auf die Schulter, welche die verkalkten Nerven lösen sollten. Am Nachmittag spielten wir Eile mit Weile und natürlich musste auch gejasst werden.
13. Mai: Ich ging mit Dir in die Physiotherapie: Martin Holenstein, ein junger sympathischer Therapeut testete Deine Schwächen. Du bekamst Termine jeweils Montag und Mittwoch 10.15 - 12 Uhr. Zuhause übtest Du das 5-Finger-System auf der Schreibmaschine. Auch das Schachspielen mit Anita machte Dir wieder Spass. Du hast auch versucht Velo zu fahren; doch das Gleichgewicht versagte, es gelang Dir nicht gut.
15. Mai: Du wolltest wieder arbeiten. Wir fragten Frau Studerus, ob Du im Geschäft mit Deinen begrenzten Kräften mithelfen dürfest, um so der vielen Freizeit Sinn zu geben. Ganz selbstverständlich gaben sie Dir die Gelegenheit. So fuhr ich Dich hin, nach zwei Stunden warst Du bereits müde. Am nächsten Tag hattest Du dann schon vor- und nachmittags während je 2½ Stunden Ausdauer. Am Freitag hast Du dann auf dem Büro bereits die ersten Grenzen gespürt: das heisst Du glaubtest die Anweisungen von Frau Studerus über die spezielle Schreibmaschine nie erlernen zu können. Du telefoniertest heim, ich müsse Dich holen. Ganz müde und voller Tränen warst Du anzutreffen. Ich versuchte Dich zu trösten, dass Deine Kräfte einfach noch schwach seien und erinnerte Dich daran, dass Du vor nicht allzu langer Zeit auch zum Gehen zu schwach warst. Das wird auch mit dem Denken noch besser werden. Ich bat Dich, Dir vorzustellen, wie es wäre, wenn Du zu allem noch ständige Kopfschmerzen oder andere Leiden ertragen müsstest.
So freutest Du Dich auf's Pfingstwochenende und hofftest, alle hätten wieder Zeit zum Jassen. Aber gerade all diesen verleidete langsam dieses Jassen. Mit Ralph hast Du dann den englischen Cup-Final geschaut. Bei einem Abendspaziergang machtest Du mit dem jüngeren Bruder ein Wettrennen, welches Du gewannst. Am Pfingstsonntag fuhren wir zum Bodensee und genossen die südländische Atmosphäre. Du schriebst eine Karte nach Bellikon. In der Woche darauf gingst Du erneut arbeiten, vor- und nachmittags je 2½ Stunden. Die tägliche Mittagsruhe mit dem Kissen zwischen den Beinen stärkte Dich wie immer.
22. Mai: Anita lehrte Dich Postauto fahren und so fuhrst Du am anderen Tag alleine zu Studerus. Ganz gespannt warteten wir jeweils auf die Heimkehr. Du warst selber froh über den Fortschritt. Am Freitag hast Du erstmals Rechnungen geschrieben, folglich sind Dir die speziellen Tastengriffe doch geraten. Zuhause übtest Du soviel es Dir die Zeit und die Kräfte erlaubten.
An diesem Freitag wurdest Du zu einer Geburtstagsfeier von einem Turnkollegen eingeladen und ich fuhr Dich zur Sitter. Marco Schaub erwartete Dich um 19 Uhr. Zwei Stunden später fuhr Dich schon wieder jemand heim; Du hast Dich gelangweilt, erzähltest Du. Es waren zu viele fremde Leute anwesend, Du fühltest Dich verloren; dabei hat es Marco doch so gut gemeint.
Der Jassnachmittag am Samstag mit fünf Freunden gefiel Dir dann wieder sehr gut. Auch der Regensonntag zwang uns wieder zum Jassen. Nachdem Papa in den Stall ging, unternahmen wir doch noch einen Spaziergang, das war für Dich Krafttraining.
In der Therapie gab es Schwierigkeiten: ohne Verordnung von einem Arzt dürfen sie nicht mit Dir arbeiten, d.h. die Versicherung zahle dann nicht. Wir waren froh, dass uns Anita durch einen bekannten Kinderarzt einen Neurologen als Fachperson zur Vermittlung empfahl. So warteten wir auf den vereinbarten Termin und trainierten das Achsel- und Ellbogengelenk. Du gingst ausser Donnerstag die ganze Woche zur Arbeitstherapie in die Bude, wie wir es jetzt nannten! Du fuhrst jeweils mit dem 8.11 Uhr Postauto hin und kamst mit dem 12 Uhr Auto heim. Nach dem Mittagsschlaf gingst Du mit dem 15.11 Uhr Auto wieder weg und nahmst das 18 Uhr Postauto um heimzukehren. Zweimal hast Du das falsche bestiegen. Du hattest 'Arbon direkt' nicht bemerkt; so landetest Du halt in Arbon und kamst später heim. Für mich und Frau Studerus entstand natürlich damit jeweils eine Spannung mit Angst. So erfuhren wir aber, dass Du Dich schon zu wehren weisst, wenn Du auch die falsche Richtung eingeschlagen hast.
An diesem Donnerstag, es war der 30. Mai, wolltest Du in Weinfelden einen Schulbesuch machen. Du hast zuerst Herr Bilger angefragt. Anita begleitete und testete Dich. Du fandest den Weg noch, von 13 - 17 Uhr nahmt ihr am Klassenunterricht teil. Es war für Dich ein Aufsteller.
Am Samstag, den 1. Juni schliefst Du erstmals ohne Kissen unter dem rechten Arm. Du schliefst vorher immer auf dem Rücken und wolltest den lahmen Arm auf einem Kissen gebettet haben. Nun legtest Du ihn auf den Bauch. Visko lud Dich wieder zur Pfadiübung ein und Du liefst mit Smoky heim. Dann spieltest Du mit Nachbarskinder Tschau Sepp! Auch einen Versuch zu joggen unternahmst Du heute, was aber misslang. Um so mehr freute Dich das Spazieren, das sich zum Wandern entwickelte. So fuhr uns Papa am Sonntag auf Peter und Paul und wir wanderten mit Dir nachhause. Das war erstmals eine längere Strecke (55 Minuten) und wir alle freuten uns über diese Leistung. Deine Müdigkeit kam allerdings zum Vorschein, Du hinktest mit dem rechten Bein. Die Geräusche von den Motorrädern hörtest Du schon von weitem und wolltest uns jeweils im Stillstand darauf aufmerksam machen, worüber wir oft lachen mussten. Du erinnertest Dich aber an keine Deiner Touren von letztem Sommer, auch wenn wir davon erzählten. Jetzt warst Du dafür viel hellhöriger und hellsehender für die Natur. Ich hatte manchmal das Gefühl, als ob Du die Vögel, die Blumen und unsere Haustiere zum ersten Mal wahrnahmst. Auch mit Judith unterhieltest Du Dich jetzt mehr, ja Du warst zutraulicher, offener geworden. Das war wohl so, weil Du Dich stets nur mit der Gegenwart auseinandersetzen konntest. Wir brauchten viel Geduld beim Abhören; bei Deinem Erzählen oder Fragen durfte ja niemand dreinreden, auch kein Radio durfte im Hintergrund laufen, sonst verlorst Du Deinen 'Faden'!

Am 3. Juni waren wir um 8 Uhr beim Neurologen Dr. Rast, der Dich gründlich während 1.5 Stunden untersuchte und befragte. Der sympathische ruhige Arzt versprach uns, ab nun dafür zu sorgen, dass die Therapien vollzogen werden können. Von einer erneuten Armoperation riet er ab: Nerven wiederherzustellen verspreche noch lange nicht, dass der 'Pfus' dann auch leite.
Am Nachmittag kam Sepp und Marie von Appenzell auf Besuch und Du kamst zum Jassen. Am Dienstag wolltest Du erstmals einen Znüni-Apfel zur Arbeit mitnehmen. Du kamst mit dem frühen Mittags-Postauto heim und klagtest über Kopfweh. Doch am Mittwoch war es wieder weg und Du fuhrst wieder zur Arbeit. In Bellikon wurde empfohlen Deine Stirn stets vor der Sonne zu schützen, was Du treu befolgtest mit einem weissen Sonnenhut. Auch der Donnerstag verlief gut: im Geschäft und mit dem Postauto, was wir alle schätzten.
Am 7. Juni kam wie abgemacht der SUVA-Inspektor um 15 Uhr. Er musste Deinen momentanen Zustand mustern und fragte Dich über eventuelle Zukunftspläne aus. Wir forderten ihn auch heraus und erkundigten uns über die finanziellen Leistungen.
Dir wurde immer klarer, dass nicht der lahme Arm, sondern das verletzte Kurzzeitgedächtnis das grössere Übel war. Jetzt halfst Du Dir, indem Du das Portemonnaie in die rechte Hosentasche stecktest. Dann wusstest Du, etwas muss ich noch ausrichten oder erzählen; hie und da gelang Dir das auch.
Am Samstag half Dir Anita beim Spengler in St.Gallen eine 'neue Garderobe' für die Jungbürgerfeier zu suchen und sonntags fuhren wir zu Tante Lisebeth und Onkel Sepp in die Muelt wo natürlich bereitwillig gejasst wurde. Tante Lisebeth hat den Narren an Dir gefressen, sie bestaunt Dich stets und findet Dich jetzt viel offenherziger! (wir nannten Dich hie und da kindischer)
10. Juni: Anita zeigt Dir den Weg mit dem Postauto in die Physiotherapie. An diesem Abend wolltest Du erstmals selbstständig ins Bett, nachdem Du Tell-Star verfolgt hast. Das war für mich und Papa ein erfeulicher Fortschritt. Am Dienstag begleite ich Dich zu Frau Netzer in die Ergotherapie nach St.Gallen. Den Heimweg nahmst Du selbstständig vor, es klappte zwar nicht mit dem Bus. Doch wusstest Du Dich zu wehren und fuhrst auf Umwegen zum Hauptbahnhof, so dass Du verspätet in der Dürrenmüli ankamst. Zu allem hast Du auch noch Deine Jacke vergessen. Am Freitag verbrachtest Du mit Lukas und Andi den Abend an der Jungbürgerfeier. Schon um 23 Uhr kamst Du nachhause und erzähltest nur wenig davon. Dann beteiligtest Du Dich an unseren 'Club-Jassen', das wir auf diesen Abend geplant hatten, um unter uns zu sein.
Am Samstag konntest Du dann einmal Papa behilflich sein. Du musstest Bretter streichen, welche ihr am Nachmittag in die Alp transportierten. Am Abend durftest Du zur Grillparty bei Marcel. Am Sonntag wurde anstatt gejasst Eile mit Weile gespielt. Montags bekamst Du Physio- und Ergotherapie nacheinander und ich fuhr mit nach St.Gallen. Am Nachmittag gingst Du wie gewohnt arbeiten. Am anderen Tag, dem 18. Juni verkürztest Du Deine Mittagsruhe und verlängertest Deine Arbeitszeit um eine Stunde. Dies wiederholtest Du die ganze Woche und fandest, es gehe prima. Wir aber spürten Deine Müdigkeit jeweils: Deine Sprache wurde noch langsamer und undeutlicher. Doch Du wolltest trotzdem am Feierabend noch jassen: zum Glück kam Anita hie und da nach Hause und half Dir Schach spielen. Am Freitagmorgen hast Du Dich prompt verschlafen und wir liessen Dich liegen, denn Deine wachen Phasen während der Nacht (2.30 - 4 Uhr) dauerten immer noch an.
Am Samstag liefst Du alleine zum Grümpeli-Turnier in Wittenbach und nachher auch wieder zurück. Du erholtest Dich nachher beim langen Schlaf bis 15 Uhr. Früh abends holte Dich Andi zum Grill-Abend von Lukas, wo sich alle Kollegen trafen und vergnügten. Am Sonntag spielten dann Deine Freunde Fussball und Du wolltest natürlich zusehen. Ja, und am Montagnachmittag streiktest Du beim Arbeiten. Du holtest vom Estrich mit Anita Prüfungen und freutest Dich an den vielen 6ern. Es musste wohl sein, denn ganz überraschend besuchte Dich Dein Cousin Emil Koller mit einer Kawasaki ZXR 750 und half Dir eine Stunde jassen. Das Motorrad gefiel Dir sehr. Am anderen Morgen freutest Du Dich wieder auf das Arbeiten. Um 16 Uhr hattest Du Ergotherapie, Anita begleitete Dich im Bus. Am Mittwoch liess sie Dich alleine zur Physio gehen, holte Dich dann aber ab. So wurdest Du im Umsteigen geübt.
Du hieltest nun die Arbeitsstunden durch wie die Woche davor. Du konntest Fahrräder annehmen und ausgeben, Garantiescheine und Rechnungen schreiben, Lieferungen auspacken und Ersatzteile einräumen. Hie und da durftest Du auch im Laden Kunden bedienen. Das Einordenen von Waren brachte manchmal Unordnung. Dein schlechtes Gedächtnis liess Dich im Stich, wenn Herr Studerus oder Sepp dies oder jenes benötigten und nicht am gewohnten Platz finden konnten. Du brauchtest auch von ihnen viel, viel Geduld und Verständnis. Hie und da begehrtest Du sogar auf, wenn Du zum Beispiel Veloschläuche im Keller holen musstest. Du meintest, das könnte Sepp mit zwei Händen viel besser und schneller. Auseinandersetzungen dieser Art gab es oft auch zuhause. Ich hatte ja den Auftrag, Dich im Haushalt mit einzubeziehen. So forderte ich Dich meist am Wochenende. Staubsaugen oder abstauben, Besteck abtrocknen, den Tisch abräumen und die Katzen füttern, das war alles, was Du mit der linken Hand machen konntest. Du halfst aber nicht freiwillig: «I mach doch nöd all so Seich», riefst Du manchmal aus. Ich gab Dir jeweils zur Antwort, «was Du machsch, ischt gmacht, egal wie lang dass hesch, was wötsch denn anders helfe?»

Mit dem Einhänder-Schreibmaschinenlehrheft kamst Du gut voran, hie und da nur wollte Dir die Geduld nicht genügen. Dann bat ich Dich jeweils, eine Pause zu machen und später mit frischem Mut weiterzumachen.
28. Juni: Heute hast Du zum ersten Mal ohne Betreuung geschlafen: es ging prima. Unser Familienleben fing an, sich zu normalisieren.
Am andern Tag besuchte ich mit Dir das Personal im 5. Stock des Kantonsspital. Leider waren die bekanntesten Schwestern nicht dort, doch einige erkannten Dich trotzdem und freuten sich an Deiner Genesung.
Am Sonntag darauf besuchtest Du mit allen Geschwistern den Zirkus Stey in St.Gallen und am nächsten Tag versuchtest Du wieder selbständig zur Therapie zu gehen. Anita spielte noch Detektiv, es klappte: nun kann man Dich also laufen lassen. Am Donnerstag kam Asterix auf Besuch und wir genossen eine Fleischplatte mit Salaten im Freien. Dass Papa und ich wieder einmal ausgehen konnten und Dich mit den Kleinen alleine zuhause lassen konnten, war ein fortschrittliches Erlebnis.
Mit Herr Baumgartner durftest Du am Samstag die Fahrer der Tour de Suisse beobachten. Das Velorennen hast Du genossen, wenn auch einwenig wehmütig. Am Sonntag gingen wir alle ausser Papa in den Bodensee baden. Dies war momentan die einzige Sportart, die Du noch ausführen konntest und wir waren froh darüber. Dann folgte eine Woche in der alle Kollegen, der Chef und auch Anita in den Ferien weilten. Es war heisses Wetter und ich war besorgt, dass Du ja stets 'bedeckten Hauptes' ausgingst.
Am Freitagmorgen bist Du früh und gutgelaunt aufgewacht. Deine Wasserflasche war leer, das hiess, dass es diese Nacht ohne Wasserlösen ging. Doch in der nächsten Nacht drängte es Dich noch einmal. Du genossest den freien Samstag und nahmst mir Johannisbeeren und -blüten ab. Mit Herr und Frau Rutz hast Du abgemacht, am Sonntag dem Besuchstag im Pfadilager beizuwohnen. Ich weiss nicht ob es Reisefieber, Freude oder Angst war, die Dich gut schlafen liessen in der Nacht davor. Um 7.30 Uhr seid ihr losgefahren und um 22 Uhr wieder heil heimgekommen. Du warst sehr müde und hattest den 'Moralischen'! Dann hast Du Dich entschlossen eine Woche Ferien zu machen. Anita war wieder zuhause. So machten wir am Dienstag eine Familien-Bergtour auf die Hochalp. Du mochtest prima laufen und wir alle genossen es. Am Mittwoch fuhren wir mit Tante Lisebeth und Onkel Sepp zur Alp, wo wir zu Mittag assen und anschliessend jassten.
Am Donnerstag wanderten wir ohne Papa zur Seealp. Die nötige Pause auf dem Hinweg benutzten wir zum Picknick im Schatten einer Tanne. Obwohl der Seealpsee braun anzutreffen war, weil durch ein Unwetter viel Geröll und Kies von den Bergen rutschte, genossen wir es. Du schriebst Deinen Freunden Karten und erzähltest ihnen vom neuen Sport 'Bergwandern'. Franzjosef, Anita und Judith gefiel das Rudern im Boot, auch wenn sich die Sonne im Wasser nicht spiegelte. Am Freitag begnügtest Du Dich mit Faulenzen und einige Rechnungen wolltest Du mit Deiner Schwester üben, spürtest dann mit 'Schmerzen' Grenzen. Am Samstag versuchtest Du aus Langeweile ein Puzzle mit 500 Teilen zu ordnen.
Sonntags fuhren wir dann auf die Schwägalp zur Kirche und grillierten nachher Würste. Dann trafen wir Maria und Sepp, die Dir und Papa mit Freude jassen halfen. Am Montag dem 22. Juli nahmst Du die Arbeit wieder auf. Du suchst jetzt nach einem Berufsziel. Im Geschäft habt ihr jetzt viel Arbeit: es gab viele Pakete zum Auspacken. Heute versuchtest Du einige Meter mit dem Auto zu fahren Am Mittwoch hiess es Abschied nehmen von Martin Holenstein, dem Physiotherapeuten. Nach dem Mittagessen hast Du gestreikt, weil Du im Geschäft nicht mit allem einverstanden bist. Am Donnerstag musste ich mit Dir zur Physiotherapie, wo wir ein Heim-Therapie-Programm bekamen und einübten. Martin konnte uns kein Zeitversprechen abgeben für Deinen gelähmten Arm. Doch sollten wir während zehn Jahren versuchen, das Ellbogen- und Achselgelenk fit zu halten. Am Freitagnachmittag kamen Martin und Rösli Neff auf Besuch und Du wolltest nicht arbeiten gehen. Du nahmst Dir immer mehr die Freiheit um zu arbeiten oder zu faulenzen. Du konntest ja auch keinen Lohn erwarten, weil es für dich Therapie war. Auch heute versuchtest Du mit dem Auto zu fahren. Du erzähltest, dass Du auf der Strasse vor dem Geschäft einen Fahrlehrer gefragt hast, ob man auch mit einer Hand den Führerschein machen könne. «Ja natürlich», war die Antwort, vorausgesetzt sei aber, dass Du selbst ein Spezialauto bringst! Ich meinte, dass Du vorerst aber noch viele andere Aufgaben zu bewältigen hättest. Abends warst Du gut gelaunt und sangst beim Wunschkonzert mit.
Am Samstag zimmerte Dir Papa einen Ping-Pong-Tisch. Du hast im Haushalt schön mitgeholfen. Wir mussten das letzte Pouletfest vorbereiten. In der Garage feierten wir mit allen Nachbarn und ihren Partnerinnen. Sepp und Hugo sorgten für Stimmung, auch Franzjosef trommelte aus der Höhe den Takt zu unseren Liedern. Am Sonntag suchtest Du im Estrich das Netz für den Ping-Pong-Tisch und stiessest auf alte Erinnerungen. Ab nun warst Du ständig auf Ausschau nach jemandem, der mit Dir Ping-Pong spielte. Das Arbeiten zu Wochenbeginn fiel Dir schwer. Auch die Heimtherapie verlief mühsam. Nach der Ergotherapie nachmittags wolltest Du Ping-Pong, den neuen 'Sport' ausüben. Die verschiedenen Ferienkarten von Kollegen und Cousin’s freuten Dich.
Am Dienstag, den 30. Juli feierten wir dann Mama's Geburtstag am Bodensee. Das Wasser war Dir zwar zu kalt und wir genossen mehr die Sonne und das Strandleben. Am Abend warst Du dann traurig gestimmt.
Am Mittwoch durftest Du nach der Ergo mit der Therapeutin in die Cafeteria. Nachher brachtest Du Deine Brille zur Reparatur. Als Du nachhause kamst, war Deine Gotte auf Besuch. Sie brachte Dir Bücher und Kassetten von ihren Söhnen. Aber Dir gefielen sie nicht, weil es alte Schlager waren und auch der Lesestoff für zwölfjährige gedacht war. So unterschätzte dich Gotte, wie auch andere, was Dir hie und da weh tat, manchmal aber amüsierte es Dich!
Am 1. August gab es trotz Regenwetter einen Funken. Die Cremeschnitten genossen wir im Gartenhaus. Vor dem Anzünden des Holzhaufens halfen Dir Anita, Ralph und Stefan 'Hoseabe' spielen. Nach dem Feuer gingst Du zu Ralph fernsehen. Am anderen Tag fühltest Du etwas im Arm und den Fingern, was uns wieder Hoffnung machte. Du langweiltest Dich wieder einmal. Ich hielt Dich jeweils zum Helfen an, was ging und dann halfen wir Dir auch jassen. Am Samstag gingst Du mit Franzjosef zu Fuss einkaufen. Am Abend vermisstest Du Deine Kollegen, sie waren am Fussballmatch. Am Sonntagmorgen gingen wir in die Kirche und nach dem Mittagsschlaf spielten wir wieder einmal Eile mit Weile. Später kam Paul Konrad auf Besuch und so gab es doch noch einige Kartenspiele, während Papa im Stall war.
Montag 5. August: Du begannst mit Langeweile eine Ferienwoche und so holten wir Finä im Bürgerheim ab. Die Heimtherapie verlief stets mühsam, d.h. es waren wirklich strenge Übungen, die Dich ermüdeten. Schon am Dienstag genossest Du dann das Faulenzen und begannst ein Winnetou-Buch zu lesen.
Am Mittwoch gingst Du zu Huber's Ping-Pong spielen, abends jassten wir und Du hast mit Anita verloren. Ich glaube aber nicht, dass Du deswegen traurig warst vor dem Einschlafen. Am nächsten Tag gingen Papa und Mama an einen Ausflug. Du hast Franzjosef im Stall geholfen, was Du konntest und spieltest auch mit Anita, Finä und Judith.
In der Nacht auf Freitag musstest Du dreimal Wasser lösen. Im Lauf des Tages entdecktest Du 'Mäuse' im Arm. Ich bat Dich, so viel wie möglich den Arm und die Finger zu bewegen. Am Abend hast Du mit Ralph gewürfelt.
Am Samstag durftest Du mit Baumgartners vom Lehmen zum Böhl und zurückwandern.
Am Sonntag 11. August kamen Frau Steiner mit Regina und Familie auf Besuch und Du hast beim Kochen mitgeholfen. Regina half Dir lange Ping-Pong spielen.
In der Nacht darauf wolltest Du schon zum zweiten Mal jassen, weil Du wegen dem Wasserlösen erwachtest und nicht mehr einschlafen konntest.
Das Arbeiten im Geschäft gefällt Dir wieder. Trotzdem warst Du wieder lange wach nachts und musstest am Nachmittag eine Stunde schlafen. Nach einem Wortstreit gab es Tränen.
Am Mittwoch hast Du den Bus in die Ergotherapie verwechselt. Du hattest danach keine Lust mehr, arbeiten zu gehen. Dafür paniertest Du die Plätzli für das Mittagessen. Beim abendlichen Einreiben spürtest Du einige Finger in der rechten Hand.
15. August: Wir luden Familie Studerus zum Abendessen ein. Du und Adrian spielten lange Ping-Pong, während wir Deine Probleme diskutierten. In der Nacht hast Du gut geschlafen und am nächsten Tag nette Kunden im Geschäft erlebt. Am Samstag hast Du Dich mit viel Vorfreude auf den Abend vorbereitet. Die Kollegen kamen zum Grillieren, Bier und festen. Bis 2 Uhr dauerte das Fest im Gartenhaus und Du hast erstmals wieder in 'Bass' mitgesungen!
In der Nacht darauf weckte Dich kein Bislen und Du schliefst bis 9 Uhr. Nach dem nötigen Mittagsschlaf fuhren wir zum Götti im Bauel und marschierten über Dottenwil-Gommenschwil nach Hause.
Am Montag lerntest Du Frau Netzer in der Ergotherapie jassen. In der Nacht musstest Du wieder zweimal Wasserlassen.
Im Geschäft gab es diese Woche nicht viel Arbeit. In der Freizeit begannst Du ein Winnetoubuch zu lesen und spieltest mit Anita hie und da Schach.
Mittwoch 21. August: Man schickte Dich nach der Ergotherapie in den Dreischiebe-Betrieb zur Besichtigung. Du fandest dort keinen Gefallen, die Leute passten Dir nicht!
Donnerstag 22. August: Herr Arnold, der Berufsberater der IV kam vorbei und befragte uns nach Deinen Zukunftsplänen. Wir vereinbarten einen Termin für einen Fähigkeitstest.
Freitag 23. August: Ungern gingst Du zur Arbeit. Du schliefst wieder schlechter und somit wurden Deine Gemütsstimmungen auch wieder betrübter.
Samstag 24. August: Thomas Hug holte Dich um 14 Uhr ab und Du verbrachtest den freien Samstagnachmittag bei ihm. Zusammen mit den anderen Kollegen konntest Du den Fussballmatch miterleben. Von 22 - 02 Uhr jassten Thomas und Paddy mit Dir. Danach konntest Du ohne Bislen bis 9.30 Uhr schlafen. Nach dem zweistündigen Mittagsschlaf unternahmen wir einen Sonntagsspaziergang übers Tobel. Du konntest uns verraten, was wir zu Mittag gegessen hatten.
Montag 26. August: Morgens um 8 Uhr waren wir bei Dr. Rast angemolden. Seine Untersuchung ergab keine grosse Veränderung im Arm, was wir mit Fassung entgegennahmen. Am Nachmittag warst Du mit Frau Netzer nach der Ergotherapie im Cafe des Bürgerspitals.
Dienstag 27. August: Das Heimtrainings-Programm verläuft oft mit Krach.
Mittwoch 28. August: Erstmals Physiotherapie bei Roman Neuber in Kronbühl.
Donnerstag 29. August: Im Geschäft gab's zuwenig Arbeit; darum machtest Du am Nachmittag frei. Freitag 30. August: In der Physiotherapie weist Michel auf die stark begrenzte Bewegung im Arm hin.
Samstag 31. August: Du musstest einen Samstag mit viel Langeweile erdulden; Mama half Dir eine halbe Stunde Ping-Pong spielen und abends halfen wir Dir jassen. Beim Einmassieren spürst Du nun ein feines Rieseln im Arm.
Sonntag 1. September: Um 10 Uhr war das Pfadi-Grümpeli und Du genossest das Zusammensein mit bekannten Pfadern. Mit dem 16 Uhr Zug fuhrst Du heim und gingst schlafen. Um 17.30 Uhr folgtest Du der Einladung von Herr Braun, an seinem Abschiedfest in St.Konrad teilzunehmen. Nach gelangweilter Zeit kehrtest Du aber schon um 20 Uhr heim.
Montag 2. September: Mit der Ergotherapie wird Pause gemacht, dafür darfst Du vermehrt zu Michel in die Physiotherapie.
Dienstag 3. September: Mama verbrachte mit Dir einen schönen freien Tag: wir wanderten vom Kronberg nach Lehmen, während Papa in der Alp arbeitete.
Mittwoch 4. September: Du warst müde von der Physiotherapie heimgelaufen. Abends sahen wir einen Film über verunglückte Menschen; die vielen Lähmungen erregten unsere Gefühle!
Donnerstag 5. September: Du hast Einladungen für die Freunde kopiert, am Abend warst Du wieder einmal allein.
Freitag 6. September: Der Berufsberater Herr Arnold von der IV testete Dich und empfahl Dir eine kaufmännische Lehre in Zürich oder Romanshorn. Heute hörte ich Dich bei einem Telefongespräch erstmals diskutieren mit Witz und Spass wie früher.
Samstag 7. September: Samstags-Langeweile: vormittags liefst Du zum Pfadiheim und nachmittags versuchtest Du zweimal zu schlafen. Du freutest Dich aufs St.Galler-Fescht mit den Kollegen. Um 02.45 Uhr kamst Du heim und konntest viel erzählen. Die Kollegen hast Du verloren, nachdem Du das Restaurant nach einem WC-Besuch nicht mehr fandest!
Sonntag 8. September: Trotzdem warst Du morgens guter Laune. Am Nachmittag machten wir einen Besuch in Gonten.
Montag 9. September: Um 8 Uhr Physiotherapie bei Michael Kandel, Du magst ihn, weil Du mit ihm spassen kannst. Du gingst erst am Nachmittag zur Arbeit.
Dienstag 10. September: Heute war ein wichtiger Tag. Wir konnten einen Termin am 25. September mit dem Brüggli in Romanshorn vereinbaren, um dort eventuell eine Bürolehre zu machen. Dank dem freien Tag konntest Du mit Papa in die Alp und dort mit dem zufällig auf Besuch weilenden Karl Bärweger jassen. Am Feierabend pflücktest Du mir die Brombeeeren ab und halfst auch Bohnen spitzeln.
Mittwoch 11. September: Diese Nacht musstest Du nur einmal bislen. Im Geschäft hattest Du viel Arbeit und am Abend schautest Du den Match Schweiz gegen Schottland aus Bern an.
Donnerstag 12. September: Du gingst um 8 Uhr zur Physiotherapie und hast es unterlassen, Dich zu rasieren. Den restlichen Vormittag verbrachtest Du mit Kreuzwort-rätseln lösen. Am Nachmittag freutest Du Dich wieder auf die Arbeit in der Bude. Abends diktiertest Du Deinem jüngeren Bruder wie schon öfters ein Diktat für die Schule.
Freitag 13. September: Nach dem guten Ratschlag von einem Pater umwickelte ich Dir erstmals das Genick und den rechten Arm mit gequetschten Kabisblättern. Du hast damit ohne Probleme geschlafen.
Samstag 14. September: Du versuchtest heute das Auto zu putzen und halfst Papa im Schopf! In der rechten Hand verspürtest Du hie und da Schmerzen.
Sonntag 15. September: Heute sind wir von Tante Hildegard und Onkel Jakob eingeladen worden zu einem feinen Mittagessen im Böhl: Steaks und verschiedene Salate mundeten allen, vor allem Dir und auch der Jassnachmittag freute Dich.
Montag 16. September: Du konntest Michel Sassano einen Velohelm verkaufen. Abends warst Du bei der Geburtstagsfeier von Ralf Krayss.
Dienstag 17. September: Du hast die Geburtstagsparty ausgeschlafen und warst erstaunt über den guten und langen Schlaf. Nachmittags gingst Du zur Arbeit und nahmst am Feierabend noch die Brombeeren ab und halfst wieder Bohnen spitzeln. Danach gab es noch einen Jass mit Papa und Anita.
Mittwoch 18. September: Die Arbeit im Geschäft wird knapp. Du kamst mit an das Familienessen mit anschliessenden Spielen in der HP-Schule von Judith. Du langweiltest Dich und stiessest an Grenzen. Deshalb gab es um 22 Uhr wiedereinmal Tränen!
Donnerstag 19. September: Das schlechte Gedächtnis belastet Dich sehr und machte Dich heute besonders traurig. Zum Glück hatte es heute ordentlich Arbeit im Geschäft. Am Abend nahmen wir Zeit zu Spiel und Jass.
Freitag 20. September: Um 14.30 Uhr hattest Du einen Termin beim Naturarzt Siegrist. Er gab uns neue Tropfen mit viel Versprechungen und empfiehl, auch morgens viel Haferflocken mit Quark und Früchten zu essen. Dies sollte das Gedächtnis stärken.
Samstag 21. September: Heute fuhren wir mit dem 06.30 Uhr Zug ab Wittenbach zum Flüeli-Ranft. Um 11 Uhr erlebten wir einen schönen Gottesdienst mit Aussicht von der Empore in der Kirche Sachslen. Die Sammlung der Laternen aus vielen Gegenden der Schweiz lösten ein eindrucksvolles Erlebnis mit vielen Unbekannten und doch im Glauben zusammengehörenden Menschen aus. Im Flüeli nahmen wir zwei unser Picknick zu uns und beteten und dankten nochmals. Auf der Heimfahrt lernten wir noch zwei ehemalige Wittenbacherinnen kennen und konnten interessant diskutieren.
Sonntag 22. September: Wir fuhren auf die Schwägalp zur Kirche und wanderten auf Irrwegen zur Alp von Metzgers.
Montag 23. September: Heute konntest Du erstmals wieder zur Ergotherapie.
Dienstag 24. September: Nach der Physiotherapie bist Du arbeiten gegangen: Du brauchst immer noch eine Stunde Mittagsschlaf und freust Dich auf Morgen.
Mittwoch 25. September: Diese Nacht musstest Du erst um 6.05 Uhr biseln. Papa und ich fuhren mit Dir nach Romanshorn zum Dienstleistungsbetrieb Brüggli. Herr Conza zeigte und erklärte uns auf sympathische Art den modernen Betrieb, in dem Du ab 1. Januar 1992 ein Praktikum bis zum Lehrbeginn im Herbst absolvieren könntest. Wir drei waren positiv beeindruckt von der wohnlichen Atmosphäre.
Donnerstag 26. September: Du nahmst Prospekte vom Brüggli mit ins Geschäft.
Freitag 27. September: Du freutest Dich auf die neue Chance. Die Arbeit im Geschäft fällt Dir immer leichter. Heute musstest Du viele Pakete auspacken und verordnen.
Samstag 28. September: Du halfst Papa beim Bau eines neuen Kaninchenstall. Wir übernachteten in der Alp mit den Kleinen. Am Sonntag kam dann Papa mit Herr und Frau Bär zum Brunch. Die Wanderung und das Jassen war gemütlich mit ihnen. Du warst abends sehr müde.
Montag 30. September: Nachmittags gingst Du nicht arbeiten. Dafür hast Du ein Gedicht mit 33 Strophen für Grossmutter geschrieben. Am Abend wurdest Du von Sepp Metzger überraschend abgeholt. Du hattest die Abmachung vergessen. Ihr wurdet von Frau Studerus zum Abschiedessen eingeladen. Feines Fondue Chinoise wurde aufgetischt und um 0.30 Uhr kamst Du heim.
Dienstag 1. Oktober: Trotzdem bist Du um 07.30 Uhr aufgestanden und um 09.10 Uhr zur Arbeit gefahren. Am Nachmittag sorgte Physio- und Ergotherapie für Abwechslung und ein Brief von Daniela Rölli hat Dich gefreut.
Mittwoch 2. Oktober: Du hast nicht gut geschlafen, musstest zweimal bislen und gingst um 08.40 Uhr arbeiten. Nach dem Feierabend begabst Dich zu Rosi Huber zum Coiffeur und Papa half Dir danach jassen.
Donnerstag 3. Oktober: Die Physiotherapie mit Michel Kandel bedeutet für Dich einen sehr angenehmen Zeitvertreib.
Freitag 4. Oktober: Im Geschäft gab es heute wenig Arbeit. Abends sahst Du fern, während Mama bügelte und Papa zur Feuerwehrübung ging.
Samstag 5. + Sonntag 6. Oktober: Heute kamst Du mit gutem Willen schon am Vormittag mit zum Obst auflesen. Der rechte Arm war dabei ein lästiges Hindernis. Du freutest Dich auf den Match mit den Kollegen.
Nach dem Match wurdet ihr von Thomas eingeladen und ihr vergnügtet euch bei ihm bis um Mitternacht. Mit Imelda und Walter Muheim konntest Du heimfahren; sie waren auch bei Hug's. Am Sonntag warst Du sehr müde. Anita und Daniela kamen auf Besuch. Am Abend kamst Du mit der Familie mit zur Kirche nach Tübach.
Montag 7. Oktober: Nach Arbeit und Physiotherapie konntest Du heute dem Schlachten eines Kalbes zuschauen.
Dienstag 8. Oktober: Heute Nachmittag hattest Du keine Lust zum Arbeiten. Du gingst mit Judith in die Migros Zutaten für die Pizza einkaufen, welche Du morgen in der Ergotherapie benötigst.
Mittwoch 9. Oktober: Beim Pizza zubereiten lerntest Du Hilfsmittel zum Kochen kennen. Dein Nachmittagsschlaf kam zu kurz, und so bist Du um 17.30 Uhr eingeschlafen. Nachher gab's ein langes Abendessen und einen Plauderabend mit Metzger Gust Wick.
Donnerstag 10. Oktober: Du hast heute nach der Physiotherapie lange geschlafen, bist am Nachmittag arbeiten gegangen und hast für Papa's Geburtstag Süssigkeiten heimgebracht.
Freitag 11. Oktober: Walter Keller hat bei uns gemolken und wir assen mit ihm am Abend Raclette. Du erzähltest ihm, dass im Geschäft viel zuwenig Arbeit vorhanden sei. Von Harald, einem Schnupperstift hast Du ein Karl May Buch heimgenommen.
Samstag 12. Oktober: Du hast auf mein Betteln wieder einmal das Sprudelbad benutzt. Du gingst einkaufen und halfst eine Weile obsten.
Sonntag 13. Oktober: Wir alle erlebten ein Superfest in Lehmen. Grossmutter's 80. Geburtstag wurde mit viel Spiel, Gesang und Musik gefeiert. Danach hast Du 1.5 Stunden geschlafen. Dafür warst Du nachts lange wach und gingst wieder öfters biseln.
Montag 14. Oktober: Morgens konntest Du dann lange schlafen. Am Nachmittag gingst Du zum Jahrmarkt und abends jassten wir mit Dir.
Dienstag 15. Oktober: Du warst wieder unzufrieden und konntest deshalb nicht schlafen. Mama hat mit Dir gejasst und in der Bibel studiert: im alten Testament fanden wir etwas Interessantes. Im Geschäft gab's keine Arbeit und um 11.30 Uhr musstest Du in die Physiotherapie. Am Abend kam Thomas auf Besuch und wir jassten dreimal auf 5’000.
Mittwoch 16. Oktober: Nachts hast Du uns Eltern geweckt wegen einer Kuh, die muhte, weil sie ihr Kalb bekam. Zum Nachtessen waren Tante Hildegard und Onkel Jakob mit Thomas eingeladen. Du freutest Dich am Essen und am Jassen.
Donnerstag 17. Oktober: Heute schriebst Du einen Brief an Herr Lehrer Wettstein und liessest die ganze Klasse grüssen.
Freitag 18. Oktober: Du gingst mit Papa an die OLMA und schliefst danach eineinhalb Stunden. Du hast auch Dein Tagebuch nachgeschrieben.
Samstag 19. Oktober: Du halfst ein wenig obsten, dann schliefst Du lange vor und freutest Dich auf das Geburtstagsfest zum 20sten von Andi Rutz. Um 00.30 Uhr kehrtest Du mit guter Laune heim.
Sonntag 20. Oktober: Morgens hast Du bis 08.30 Uhr geschlafen. Am Vormittag telefonierte Dir Stefan Kaufmann und wollte mit Dir zur OLMA. Du hast abgesagt
Montag 21. Oktober: Herr Kühne von der IV kam ins Geschäft um Deine Arbeitsleistung zu beurteilen. Du kamst schon um 11 Uhr nach Hause, weil Mama obstete.
Dienstag 22. Oktober: Heute hattest Du kein Spass am Obsten, es hatte zuviel Gras und deswegen liefst Du davon. Dafür erlebtest Du eine unterhaltsame Physiotherapie bei Michel um 11.30 Uhr.
Mittwoch 23. Oktober: Du hattest wieder einen freien Tag. Im Haushalt halfst Du mit. Dank dem Superbrett mit Nägeln von der Ergotherapie konntest Du heute die ersten Kartoffeln schälen.
Samstag 26. Oktober: Nun freust Du Dich auf das Alp-Weekend mit sieben Kollegen. Dieses Jahr wird es klappen. Um 15.30 Uhr werdet Ihr starten! Die Verantwortung über Kochen und Ordnung wird nun Ralph Baumgartner übernehmen.
Sonntag 27. Oktober: Ihr seid um 16 Uhr heimgekommen. Du konntest aufgestellt von dem Erlebnis erzählen. Ihr habt auch ins Hüttenbuch gedichtet, wie lustig es zu und her ging.
Ab nun gab es immer weniger Arbeit im Geschäft. So konntest Du Dich zuhause viel mit der Schreibmaschine beschäftigen. Diese Geschichte verhalf Dir zu interessantem Stoff. Natürlich streikte hie und da Deine Konzentration und es passierten Dir Fehler. Du hattest ja viel Zeit zum Korrigieren. Auf dem Weg zur Therapie und Arbeit trafst Du hie und da Bekannte im Postauto. Dann stecktest Du jeweils Dein Portemonnaie in die rechte Hosentasche; somit wusstest Du zuhause, dass Du mir etwas erzählen wolltest, was Dir nach festem Nachdenken meistens gelang. Zwischendurch langweiltest Du Dich stets. Moralische Tiefs liessen Dich abwechslungsweise nicht schlafen. Dann gab es aber auch freudige Hochs und Überraschungen.
Anfangs November trafst Du Walter Baumann vor unserem Haus in einem Kükenlieferantenwagen. Er war mit Dir als Patient in Bellikon auf dem gleichen Stock und hat mit Dir öfters gejasst. Sein Cousin brachte uns erstmals Küken zum Aufziehen und liess Walter zum Zeitvertreib mitfahren. Der Familienvater hat durch eine Bluterkrankung ein Bein amputieren müssen und spielt jetzt oft mit grossen Schmerzen Hausmann, damit seine Frau arbeiten gehen kann.
Du tröstetest Dich, dass Du wenigstens ohne Schmerzen gehen und wandern kannst; Walter tröstet sich, dass er keine Hirnverletzung erleiden muss.
Du schriebst täglich in Dein Tagebuch und so wurde die Schrift immer schöner. Mit der Heimtherapie warst Du weniger zuverlässig, ich musste oft mit harten Worten nachhelfen. Hingegen überraschte es uns alle, dass Du mein Protokoll für den Sekundarschulrat wieder schreiben und Deutschfehler korrigieren konntest. Von dem hätte ich vor einem Jahr nicht zu träumen gewagt. Nun entwarfst Du auch eine handgeschriebene Geburtstagseinladung für Deine Kollegen. Du warst stolz auf Dein gelungenes Blatt, welches Du mit Foto auf der Post kopiertest.
Am meisten freutest Du Dich immer auf das Wochenende mit den Kollegen. Diesen Winter/Frühling gab es nebst dem Turnen und anschliessendem Ausgang noch andere Feste. Alle Freunde feierten wie Du den 20. Geburtstag.
Am 23. November luden Lukas und Thomas als Erste ins Erlenholz ein, wo sie gemeinsam lustige Unterhaltung und feines Essen organisierten.
Mit Firma Studerus durftest Du ans Weihnachtsessen, was Du als 'Feinschmecker' sehr schätztest. Solche verlängerte Abende und Nächte machten Dich stets sehr müde. Ich konnte mir so gar nicht vorstellen, dass Du ab 1. Januar 1992 den ganzen Tag arbeiten gehen kannst, ohne einen Mittagsschlaf machen zu können. Und doch hofften wir sehr, dass sich dann einiges verbessern würde. Wir hofften auf sinnvolle Arbeit in einem friedlichen Team, die Deine Langeweile, Unzufriedenheit und moralischen Tiefs zum Verschwinden bringen.
Zu Deinem 20. Geburtstag am 12. Dezember erschienen alle geladenen Gäste und fühlten sich wohl in der vertraut gewordenen Stube. Natürlich wärst Du überfordert gewesen, die Gäste alleine zu bedienen, denn es kam Dir nicht in den Sinn, Getränke und Essen nach zu tischen. Du warst von den Gesprächen und anschliessenden Spielen genug beansprucht worden. So blieb ich zwar ungern in der Nähe und musste feststellen, dass sich Deine Kollegen zu jungen Männern entwickelt haben. Dein Rückstand wurde mir im Vergleich mit ihnen schmerzend bewusst. Ich glaubte, mich an die gegenwärtige Situation gewöhnt und alte Bilder vergessen zu haben. Dein 20. Geburtstag aber rüttelte nochmals an dem Schicksalsschlag: Deine Kollegen wurden entweder mit der Lehre fertig oder machten die Matura und hatten die Absolvierung der Rekrutenschule vor. Wir mussten uns zufrieden damit abfinden, dass Du die Chance bekommst, mit Deiner Invalidität ein Bürolehre zu absolvieren.
An Weihnachten dachten wir dankbar an das vergangene Jahr zurück und freuten uns am Ist-Zustand.

 

Neujahr 1992

Niklaus begann mit voller Zuversicht im Brüggli, einem Dienstleistungsbetrieb mit 100 Angestellten, in Romanshorn sein Praktikum. Noch eine Arbeitskollegin, Anita Singer, fing mit dem gleichen Ziel im Team an. Anfangs war es der Weg, vom Bahnhof ins Geschäft und nach der Arbeit zurück zum Bahnhof, der ihm am meisten Sorgen machte. Er konnte ihn sich nicht merken und verlief sich ständig. Zweimal fuhren wir an einem Sonntagabend nach Romanshorn, um herauszufinden, welches der kürzeste Weg ist. Auch auf dem Sprechgerät, das wir ihm zu Weihnachten geschenkt hatten, erzählte er, wohin oder wolang er gelaufen ist.
Herr Conza, Chef der Abteilung bemühte sich zwar sehr, Niklaus sinnvoll zu fördern. Nach kurzer Zeit Arbeit mit der Schreibmaschine durfte er an den Computer, von dem Niklaus begeistert war. Es war für ihn wichtig, dass man ihm am Feierabend zuhörte. Erlebnisse und Eindrücke im schönen Büro, im Team, in der Mittagspause, im Zug und auf den Wegstrecken wollten mitgeteilt werden. Manchmal erzählte er natürlich zweimal das Gleiche, weil er nicht mehr wusste, was er schon gesagt hatte.
Immer noch führte er sein Tagebuch und so wurde die Handschrift immer schöner. Die Therapie bei Michel einmal in der Woche nach Feierabend war stets ein Aufsteller. Michel erprobte ihn meist in der Erinnerung an Sportresultate und später fachsimpelte man über Computer. Gleichzeitig trainierte man den Arm, d.h. den Ellbogen und das Achsengelenk, welches beweglich bleiben muss. Zuhause massierte ich jeden Abend den Arm mit Johannisöl, legte gequetschte Kohlblätter auf und band ihn ein.
Mehrmals konnte Niklaus mit seinem Chef, welcher in Gais seinen Wohnsitz hat, heimfahren. Da konnte ich mich hie und da bei ihm nach den Fortschritten und Leistungen von Niklaus erkundigen. Herr Conza war zufrieden; er zweifle nicht, dass Niklaus die Bürolehre schaffen werde. Niklaus sei gut im Team integriert und habe ein gute Auffassungsgabe und Ausdauer. Natürlich brauche er mehr Routine für Neues, die Konzentration lasse besonders am späten Nachmittag nach. Das forderte von Niklaus viel Geduld, denn ohne etwas zu leisten herumzusitzen, deprimierte ihn oft. Dann erwartete er am Feierabend noch etwas Interressantes, was auch nicht immer geboten werden konnte. Zum Glück sorgten seine guten Kollegen wenigstens am Wochenende für Unterhaltung.
Im Brüggli wurde für guten Geist im Geschäft viel Gewicht getragen. Alle 14 Tage wurde eine halbe Stunde Positives Denken mit dem Geschäftsleiter Herr Fischer geübt. An den Abteilungssitzungen musste stets ein anderes Team-Mitglied das Protokoll schreiben. Das war für Niklaus jedesmal eine Herausforderung, weil er nur nach seinen Notizen arbeiten konnte, sich aber nicht mehr an die Zusammenhänge erinnerte. Am Valentinstag bekam jede/r MitarbeiterIn einen Blumenstrauss, der uns alle freute.
An einem Sonntagsspaziergang über Dreilinden fiel mir ein Mann auf, der seine rechte Schulter etwas tiefer hatte und die Hand in der Hosentasche hielt. Ich machte Niklaus auf den Schicksalgenossen aufmerksam und forderte ihn auf, diese Idee nachzuahmen. Die Finger stiessen aber in der Hosentasche an und er empfand dies unbequem. Zuhause konnten wir dann die Nähte aller rechten Hosentaschen auftrennen. So wurde Deine Armschlinge überflüssig, weil das mit der Hand in der Hosentaschen viel praktischer war und die Hand so auch nie frieren musste. Zudem war es auch für das Auge viel schöner.
Von Deinen Berufserfahrungen als Fahrradmechaniker konntest Du im Brüggli profitieren. Der Verkauf der Leggero’s (Fahrradanhänger) verlangte hie und da die Erklärungen der Anhängevorrichtungen bei den verschiedenen Velorahmen. Er nahm Beschreibungen mit für jene Mitarbeiter, die keine Ahnung von einem Fahrrad hatten. Im Frühling wurde er zum Firmenfussball spielen jeweils am Dienstagabend eingeladen. Das machte Dir Spass, weil ja oft auch mit der Aktivriege trainiert wurde. Du durftest auch intern einen Word 5.0 Kurs besuchen. So verliefen die Wochen schnell und die Begeisterungen wechselten hie und da mit Enttäuschungen, dementsprechend verliefen auch die Nächte mit gutem oder schlechtem Schlaf. Das Zureden und Abhören war ganz wichtig, wobei wir immer betonen mussten, dass jedes Leben eine Sonnen- und Schattenseite habe. Niklaus erreichte wieder fast sein früheres Gewicht. Das forderte eine neue Garderobe. Im Tagebuch schrieb er nach dem Einkauf, dass die Verkäuferinnen verstehen und helfen würden.
Auf der Hin- und Rückfahrt nach Romanshorn traf er stets bekannte, liebgewonnene Gesichter und die Wanderung vom und zum Bahnhof genoss er sichtlich nach dem langen Sitzen. Ende März erhielt er die Bestätigung für die Lehrlingsausbildung. Jetzt wurde es immer schwieriger für uns, den Berichten über das Experimentieren am Computer mit Interesse zuzuhören. Bei neuen Schritten forderte ihm sein verletztes Kurzzeitgedächtnis grosse Anstrenungen. Das brauchte auch für den Chef und die MitarbeiterInnen viel Geduld. Niklaus brauchte sein Sprechband nicht gerne, weil er ständig vergass, es einzusetzen. So erkannte er, dass er neue Aufgaben am Besten aufschreibt, damit er sie jederzeit ablesen konnte. Nach viel Routine blieben ihm dann so die Computer- und Druckerkenntnisse Schritt um Schritt. Beim Betriebsausflug Ende Mai amüsierte sich Niklaus sehr. In nostalgischen Wagen gab es Gelegenheit zum Jassen. Hie und da gab es nach Feierabend Einladungen von Team-MitarbeiterInnen.
Am 1. Juni mussten wir zum Untersuch bei Dr. Rast. Am Vorderarm spürtest Du den Unterschied zwischen stumpf und spitz. Die Überempfindlichkeit am Oberarm war verschwunden. Ansonsten konnte der Doktor aber keine weiteren Fortschritte feststellen.
In der Bude, so nannte Niklaus seinen Arbeitsplatz, wurde das Büro umgestellt und klar unterteilt. Der Telefondienst wurde ab Ende Juni zu seiner neuen Aufgabe. Solange Anrufe kommen, sei dieser Dienst erträglich, schrieb er ins Tagebuch, aber mit der restlichen freien Zeit wisse er nichts anzufangen.
So gab es wieder Schlafstörungen und er war zu müde um am Dienstagabend beim Fussballspielen mitzumachen. Dann installierte eine Kollegin Word 5.0 auf seinen Computer und er hatte so in der toten Zeit etwas zu tun.
Während den drei Ferienwochen erlebte er viele schöne Wochenende mit den Kollegen, einige Ausflüge und Bergtouren mit der Familie, half im Haushalt, beim Bohnenspitzen und zwischendurch hatte er Langeweile.

 

Lehrbeginn

Dann begann die Bürolehre im Brüggli in Romanshorn. Noch eine Arbeitskollegin, Anita, fing im Team an mit dem gleichen Ziel.
Am Mittwoch, dem 12. August 1992 hatte er den ersten Schultag in der Kaufmännischen Berufsschule in Weinfelden. Den Weg mit der Bahn dorthin kannte Niklaus zum Glück noch aus der Zeit seiner Berufslehre als Fahrrad- und Motorradmechaniker.

Er fand seine Klasse mit 17 Mädchen und drei Knaben gut. An den folgenden Schultagen gab es viel Aufgaben, welche Niklaus zuhause nun zur Abwechslung und Freizeitausfüllung verhalfen. Er schrieb in der Schule flüchtig und unleserlich, weil es schnell gehen musste. Zuhause machte er dann die Reinschrift und konnte sich so mit dem Bildgedächtnis alles besser merken.
In der Bude verlief alles normal, d.h. ausser dem Telefondienst erledigte er kleine Aufträge. An einem Freitag erledigte er soviel neue Arbeit, dass er abends zu müde war, um mit den Freunden ins Training zu gehen.
Im Oktober hatte er Schulferien und die freie Zeit verbrachte Niklaus meist mit Freunden an der OLMA.
Im November hatten wir wieder einen Termin bei Dr. Rast. Mit einem Lächeln stellte er wieder einen kleinen Fortschritt fest: der gelähmte Arm bekam mehr Umfang und Niklaus konnte ihn nach innen bewegen, nicht aber nach aussen.
Am 2. Dezember hiess es im Tagebuch von Niklaus, dass er in der Schule vom Turnunterricht dispensiert wurde, dafür aber schwimmen gehen müsse. Bei den Maschinenschreibstunden war er unter den Besten trotz nur einer Hand. In der Abteilung gab es einen Chefwechsel. Herr Conza verliess das Brüggli und neu wurde Herr Kuster angestellt. Herr Conza machte sich selbständig in der Computerbranche.
Mir fiel auf, dass Niklaus anfangs viel 'Spass und Gaudi' mit dem neuen Chef hatte, den er duzen durfte. Schon nach wenigen Wochen klagte er, dass ihm zuwenig Arbeit erklärt und zugeteilt werde. Der Telefondienst wurde jemand anderem übergeben. Niklaus verlor den Respekt und die Achtung vor Herr Kuster und er hatte Heimweh nach Herrn Conza. Da entstanden natürlich Spannungen. Niklaus klagte oft, dass er auf Antworten zu Problemen im Geschäft zulange warten müsse. Ich warf ihm vor, dass er noch nie ein geduldiger 'Warter' war und forderte ihn immer wieder auf, Geduld zu üben, weil er es von uns und den anderen auch fordert. Sein verletztes Kurzzeitgedächtnis wurde für alle Umgebenden eine Herausforderung und Nervenbelastung.
Niklaus wehrte sich und behauptete, dass die Arbeitskollegin Anita vom Chef vorgezogen werde und mehr Chancen bekomme, etwas zu lernen. Diese Unzufriedenheiten brachten wieder mehr schlafgestörte Nächte und dementsprechende Launen und Auseinandersetzungen zuhause. Die Wochenenden mit den Kollegen wurden jeweils zum Aufsteller. Auch das Alpweekend und die Vorbereitungen auf den Unterhaltungsabend des Turnvereins im November brachten Abwechslung. Natürlich war der Jass in der Mittagspause auch ein Trost.

Mitte November wurde das Büro schon wieder umgestellt und im Dezember gab es ein feines Geschäftsessen im Bodan. Niklaus kaufte sich auf Weihnachten einen Computer. So hatte er nun genug Beschäftigung an den langen Feierabenden. Ein Kollege von der Druckerei im Brüggli kam zu ihm nach Hause und nahm die Installationen und nötige Einstellungen vor. Anfang Januar teilte Herr Kuster mit, dass demnächst Herr Arnold, der Berufsberater von der IV, vorbeikommen werde. Zusammen sollte beraten werden, ob Niklaus die Ausbildung zum Büroangestellten beende oder ob er etwas im Bereich Informatik lernen könnte. Es stellte sich dann heraus, dass vorerst die Bürolehre abzuschliessen sei.
Ende Januar freuten wir uns alle über das gute bis sehr gute Schulzeugnis von Niklaus. Auch im Geschäft wurde er mit einem Blumenstrauss dafür belohnt. Ich staunte über die Schulleistungen, die ihm trotz des Frühaufstehens um 05.25 Uhr und des schlechten Gedächtnisses gelangen. Im Deutsch und Rechnen genügte noch das frühere Wissen und in den anderen Fächern wie Bürokommunikation, Betriebs- und Rechtskunde, Buchhaltung, Staats- und Wirtschaftskunde half Dir jeweils Papa abfragen. Bis Ende Februar stand den Lehrlingen im Geschäft eine Stunde in der Woche zum Lösen der Aufgaben zur Verfügung. Niklaus verstand sich gut mit Anita und sie lernten oft miteinander. Manchmal bat sie auch Niklaus telefonisch um Hilfe bei den Aufgaben. Anita hatte Verkäuferin gelernt und wurde durch eine Krankheit an den Rollstuhl gebunden.
Ende Februar durfte ein Teil der Angestellten zur Zweiradausstellung nach Zürich fahren.

Die Therapie bei Michel Kandel jeweils am Montag war immer unterhaltsam und humorvoll. Auch wenn es dem gelähmten Arm nicht viele Fortschritte brachte, erhielt dafür sein Gemüt wertvolle Impulse.
Zu Beginn 1993 bekam Niklaus seine Frühlingsferien und er fing an, diese Unfallgeschichte auf seinem Computer zu erfassen. Ende April nahm Herr Kuster Ferien und Niklaus arbeitete während dieser Zeit in der Textilabteilung um bestimmte Fachbegriffe und deren Anwendung kennen zu lernen.
An einem schönen Frühlingstag rief Herr Fischer, Geschäftsleiter vom Brüggli mir an und teilte mit, dass dringend eine Besprechung durchgeführt werden müsse, bei der Herr Arnold von der IV, Herr Kuster, Frau Leitner, Klassenlehrer Herter und die Eltern anwesend sein müssen. Er glaube, dass es keinen Sinn habe, wenn Niklaus die Bürolehre beende, man könne ihn doch nirgends brauchen, er jedenfalls wollte ihn nicht vergebens. Das war ein Blitz aus heiterem Himmel, alle Hoffnungen schienen zu schwinden.
Darauf rief ich Herr Conza in Gais an und erzählte es ihm. Er riet mir, auf jeden Fall für das Beenden der Lehre zu kämpfen. Er habe auch nicht verstanden, wieso man Herrn Kuster als Chef in diese Abteilung gewählt habe. Er vermute, dass Niklaus einfach zu unbequem sei, dass man die IV-Gelder lieber einfacher verdienen möchte. Zudem habe der neue Chef keine kaufmännische Lehre abgeschlossen. Jedenfalls fand die Sitzung anfangs Mai statt. Nach zwei Stunden angeregter Diskussion kamen wir zum Schluss, dass wir über die vielen Fragen schlafen werden und im Juli in gleicher Runde noch einmal zusammenkommen und entscheiden ob Niklaus die Lehre abbrechen oder sie mit einem speziellen Programm in der Buchhaltung beenden soll. Herr Herter, der Deutschlehrer von Niklaus war zugleich Psychologe und hinterfragte das Verhalten von Niklaus im Geschäft. In der Schule sei er einer der aufmerksamsten Schüler und bei den MitschülerInnen gut integriert. Ich erklärte, dass Niklaus auf Anita eifersüchtig sei, weil sie mehr gefordert werde. Zudem könne er mit Wartezeit, die anstatt zehn Minuten bis zu einer Stunde währe, nichts anfangen, werde darum bockig und unzufrieden. Ich vermute, dass es sich einfach um ein Unverstandensein zwischen Herr Kuster und Niklaus handle.
Bei Herr Conza kamen diese Probleme nicht zum Vorschein, volle sechs Monate war Niklaus im Praktikum und die Fähigkeiten überzeugten, dass er die Lehre schaffen werde. Die Vorwürfe von Herr Fischer, dass wir ehrgeizige Eltern mit Prestigedenken seien und zuviel von unserem Sohn erwarten, wies Papa zurück und fragte ihn, was anderes ein Einhänder denn sonst machen könne. Auch Herr Arnold von der IV bestätigte, dass ja Niklaus von ihm getestet wurde und die guten Rechnungs- und Deutschkenntnisse zu diesem Ergebnis geführt haben. Dann warf man mir auch vor, dass ich vielleicht Niklaus zu fest helfe und er deshalb nicht selbständig werden könne. Herr Fischer schlug vor, dass unser Sohn im Wohnheim Brüggli ein Zimmer nehmen soll, was ja von der IV bezahlt werde. Niklaus sei für sein Alter recht unreif und unselbständig.
Ich wehrte mich gegen diese Anschuldigung und fragte nach was für Maßstäben denn ein junger Mann mit 21 Jahren nach solch einem Unfall gemessen werden könne. Sein verletztes Kurzzeitgedächtnis sei nun einmal auf ständige Hilfe und Mitdenken angewiesen wie zum Beispiel Kollegin Anita auf ihren Rollstuhl. Von ihr verlange man doch auch nicht, dass sie es ohne ihn versuchen soll. Ich gab zu, dass viele andere in seinem Alter schon selbständig wohnen, aber meist mit einer Freundin, die in meinen Augen ja ein Mutterersatz sei, was Niklaus sich ja nicht leisten könne und auch nicht wolle. Auch Papa sträubte sich gegen dieses Angebot und sagte, dass das Wohnen bei den Eltern während der Lehre wohl die bessere Lösung sei und auch die täglichen Fussmärsche nach dem langen Sitzen gesund seien. Zudem teilten wir mit, dass ja alle seine guten Freunde auch zuhause wohnen. Ich meinte, dass die Stunden des Positiv-Denkens doch nicht nur für die Lehrlinge gelten sollten, sondern auch für das Begleit- und Lehrpersonal.
Zur Freude von Klassenlehrer und Psychologe Herter verriet ich, dass Niklaus auch als Kind immer auf seine Schwester Anita eifersüchtig war, weil sie besser reden konnte und er unbewusst so in den Schatten gedrückt wurde. Ich machte auch klar, dass angeborene, vererbte Eigenheiten nicht der Erziehung der Mutter angelastet werden dürfe. Niklaus schrieb an diesem Abend ins Tagebuch: ‘Ich muss lernen, meine Verletzung zu akzeptieren und Hilfsmittel zu benutzen. Von mir wird dringend erwartet, dass ich im Verhalten gegenüber Drittpersonen reifer werde, das heisst, meine Persönlichkeit im Arbeitsteam muss erträglicher werden. Mein Besserwissen muss ich schubladisieren und mich unterordnen lassen.’ Im Geschäft bemühte man sich, Niklaus mehr Aufgaben anzuvertrauen.
Das Pfingstwochenende lenkte von den Sorgen ab: Niklaus konnte mit den Freunden ins Tessin fahren, wo eine kleine Zeltstadt errichtet wurde.
In den folgenden Wochen entstanden einige Gespräche mit Herr Herter in der Schule und auch im Geschäft mit Herr Fischer. Am 1. Juli wurde im Brüggli den 11’111-ten Leggero verkauft, was mit einem Sandwich zum Znüni für alle MitarbeiterInnen gefeiert wurde.
Auch mit den Halogenlampensystem reluci machte sich der Dienstleistungsbetrieb weltweit einen guten Namen.
Am 5. und 6. Juli musste Niklaus an einem Zivilschutzkurs in Altstätten teilnehmen. Ausgerechnet an jenem Montagmorgen war eine wichtige Besprechung im Brüggli mit Herr Herter, Herr Arnold und die Chefpersönlichkeiten vom Geschäft. Da wurde abgesprochen, dass er die Lehre beenden dürfe und dass er nach den Sommerferien zu Frau Leitner in die Buchhaltung kommen werde. Dort werde Niklaus Corel Draw, ein Grafikprogramm auf seinen Computer geladen. Er dürfe aber nicht im System arbeiten, weil dies wegen seinem schlechten Gedächtnis nicht zumutbar sei.
Zuhause probierte er vieles mit seinem Computer aus, hatte ein Buchhaltungsprogramm für sich und kaufte sich auch noch einen günstigen Drucker. Nun erarbeitete er auch hie und da Arbeitsblätter vom Brüggli, weil er dort mit dem alten Computer Mühe hatte. Er durfte drei Wochen in der Druckerei helfen, wo er aber nebst Adressen erfassen nicht viel leisten konnte.
In der Berufsschule in Weinfelden traf er jetzt hie und da die ehemaligen Lehrer von der ersten Ausbildung. Im momentanen Schulunterricht findet er die Staats- und Wirtschaftskunde sehr interessant, was er zum Glück mit Papa viel üben kann. Im Rechnen bereitete ihm die Waren-kalkulation zu Beginn grosse Mühe.
Mit dem 'alten und langsamen' Corel Draw im Geschäft ärgerte sich Niklaus den ganzen Herbst und konnte wieder ab und zu nicht gut schlafen.
Anfangs September bekam er vom Elternrat der Pfadi Erlach eine neue Aufgabe. Sie wählten ihn zum Abwart des nahe gelegenen Pfadiheims und er erhielt die Schlüssel und die Verantwortung für das Heim. So bereicherte er seine Freizeit mit Kontakten zu Pfadern und Spaziergängen ins Heim. Bei Unordnung muss natürlich Mama putzen. Wird etwas kaputt gehen, versteht Papa es ausgezeichnet, den Defekt zu reparieren.
Im Geschäft versucht Frau Leitner Niklaus sinnvoll zu beschäftigen, um ihm tote Zeit zu ersparen. Nebst dem einen Schultag durfte er noch an einem Nachmittag zum Computerkurs. Er erzählte, dass er zwar nicht viel Neues lerne, dafür in der freien Zeit andern helfen könne. In seinem Tagebuch konnte man immer mehr Positives lesen. Im Programm Corel Draw entdeckte er die vielen Symbole und dank Herr Tobler, dem Systemverantwortlichen konnte er auf dem Farbdrucker in der Druckerei ausdrucken. Am 12. November schrieb Niklaus ins Tagebuch: 'mir gefiel es, wie ich den ganzen Tag zu arbeiten hatte und am Abend noch von Herr Fischer für die Arbeit (Listen mit Excel) gelobt wurde.' Zu Weihnachten bekam Niklaus wie alle seine MitarbeiterInnen einen Früchtekorb vom Geschäft.
Über die schönen Festtage wurde zur Freude von Niklaus viel gejasst. Auch mit seinen Kollegen verbrachte er schöne Tage, vor allem am Silvester auf der Schäflinsegg bei einem 6-Gang Menü.
Im Geschäft begann das neue Jahr mit einer Enttäuschung. Sein Computer war immer noch nicht vollständig und korrekt eingerichtet. Heidi Leitner versprach dann, dass Fritz Tobler ihn als nächsten drannehmen werde.
Beim Versuch, am Ausverkauf einen günstigen, warmen Mantel zu finden, war Niklaus über sich selbst enttäuscht: beim Preisvergleichen in verschiedenen Geschäften, fand er den in Frage kommenden nicht mehr, das heisst, er konnte sich einfach nicht mehr an das betreffende Geschäft erinnern. So musste halt Mama beim nächsten Mal am Abendverkauf mit dabei sein.
In der Schule gab es jetzt mehr Aufgaben zu lösen und Dank denen war die Freizeit zuhause sinnvoll ausgefüllt. An einem Sonntag versuchte er zu 'langläufeln'. Doch schon nach dem ersten Sturz bei einer kleinen Abfahrt gab er es auf. Das mangelnde Gleichgewicht verdarb ihm die Freude bei diesem Sport. Ende Januar brachte Niklaus ein gutes Zeugnis von der Schule heim. Wir belohnten ihn mit einem Jassabend. Papa fuhr mit ihm nach Bellikon zum Untersuch. Dr. Caprez testete ihn mit Fragen, Zahlenreihen aufsagen, Geschichten nacherzählen und vielem anderen mehr. Er war erfreut über seine Fortschritte. Ab Februar konnte Niklaus für seinen Deutschlehrer Herter Arbeitsblätter erfassen und gestalten. Das Darstellen von Blättern machte ihm besonders Freude. Deshalb durfte er im Brüggli während einer Woche in der Druckerei schnuppern. Aus dem Tagebuch entnahm ich, dass er dort nicht viel Produktives leisten durfte, die Behinderung seines rechten Armes begrenzten die Möglichkeiten. So überlegte Niklaus öfters, was er nach der Lehre machen solle. Im Brüggli bleiben kam für ihn nicht in Frage. Darum schrieb und telefonierte er einmal seinem ersten Chef Mario Conza. Im März erfuhr er von ihm, dass er als Computerfachmann Firmen bei Problemen berät. Er versprach, nach einer Idealstelle für Niklaus Ausschau zu halten.
An Ostern teilten die Kollegen ihre Freizeit wiederum mit Niklaus , stolz zeigte er ihnen sein neues Zubehör zum Computer, das CD-ROM. Natürlich wurde aber intensiv gejasst. Auch die OFFA verhalf zu Treffen mit Kollegen und jedes Fussballspiel des FC St.Gallen wurde mit ihnen verfolgt. Nach schönen Tagen schrieb Niklaus öfters ins Tagebuch: 'heute war so richtiges Töffwetter.' Bei der Organisation des beliebten Hallenjockeyturnier wurde er von der Aktivriege nach seinen Möglichkeiten miteinbezogen.
Anfangs Juni wurden die Bürolehrlinge in der Schule über Rechte und Pflichten nach der Lehre informiert. Da jetzt Conny Bollhalder in der Nähe vom Brüggli arbeitete, konnte Niklaus öfters mit ihr per Auto heimfahren. So freute er sich über die verlängerten Feierabende. Sepp und Martina Metzger mit Walter übten jede Woche wieder Alphornblasen beim Pfadiheim und Niklaus ging sie öfters begrüssen.
Im Geschäft erhielt er neue Aufgaben: für die Beschreibungen der Abläufe im Prozessmangement konnte er die Arbeitsblätter gestalten. Mit Mitarbeiterin Anita löste Niklaus hie und da Aufgaben an den freien Samstagen in ihrer Brüggli-Wohngruppe-Wohnung oder gab Rat über Telefon. Sein Computer zuhause sorgte hie und da für Aufregungen oder besser gesagt für Probleme, die er dann mit Hilfe dritter lösen konnte.
Schon feierten die Lehrlinge den letzten Schultag mit dem Klassenlehrer, Herr Herter im Restaurant Ottenberg in Weinfelden. Doch zuhause musste Niklaus noch viel vor der Prüfung repetieren.

 

Abschlussprüfung

Am Dienstag 14. Juni begann die Abschlussprüfung. Anita und Niklaus durften in den schriftlichen Fächern mehr Zeit beanspruchen. Deshalb mussten sie am anderen Morgen nochmals nach Weinfelden, um die Deutschprüfungen und den Aufsatz zu schreiben. Bei dieser Gelegenheit besuchte Niklaus nochmals seinen beliebten Lehrer aus seiner ersten Lehrzeit, Herrn Bilger. Auch Donnerstags und Freitags waren Prüfungen in der Schule, die ihn etwas stressten.
Jedenfalls plagte ihn am Freitagabend eine leichte Angina und er verzichtete für einmal auf das Training in der Aktivriege. Das freie Wochenende genügte nicht um die Halsentzündung zu heilen und er blieb bis am Mittwoch zuhause. Am Freitag dann durfte er den letzten Büroausflug mit Ross und Wagen übers Hudelmoos geniessen und freute sich mit allen am feinen Essen im Schloss Hagenwil.

Am Dienstag dem 28. Juni bekam Niklaus den wichtigen Brief von der Berufsschule: er entnahm mit Freude, dass er die Abschlussprüfung gut bestanden hat. Die geglückte Abschlussnote 5,4 feierten wir dann mit ihm am Sonntag auf dem Säntis. Wir genossen das feine Mittagessen und jassten dank der Anwesenheit von Franzjosef zu viert.
Danach wanderten wir über den Blauen Schnee zum Öhrlikopf und über die Nasenlöcher zurück zur Schwägalp. Das strahlende Wetter im schönen Alpstein machte es einem leicht, für all die vergangenen überstandenen Spannungen, Fortschritte und für den gelungenen Abschluss der Lehre zu danken. Die Bergtour ermüdete Niklaus sichtlich, denn seine Sprache wurde wieder schleppender.
Am 4. Juli mussten Papa und ich nochmals ins Brüggli zu einer Besprechung mit Herr Arnold von der IV und dem Arbeitgeber Herr Fischer und mit Frau Leitner. Wir diskutierten über die berufliche Laufbahn von Niklaus. Im Brüggli bleiben will er auf keinen Fall, was alle gut verstanden. Durch unsere Nachbarn bekam er Aussicht auf eine Anstellung beim Landmaschinenmechaniker Sutter in Andwil. Die IV bezahlte eine dreimonatige Einarbeitungszeit.

 

Praktikum

Der 15. Juli war sein letzter Arbeitstag im Brüggli, den Abschied durfte er in der Cafeteria feiern. Am 8. August fing Niklaus erwartungsvoll auf dem neuen Arbeitsplatz an. Mit dem 07.32 Uhr Postauto fuhr er nun jeden Morgen ab Bahnhof Wittenbach über Waldkirch nach Andwil. Das Büro war gegenüber dem im Brüggli sehr eng und der Computer langsam. Dafür bekam er in den ersten Wochen genügend Arbeit. Es gab viele Rechnungen von Reparaturen und Melkmaschinen-Servicen zu schreiben. Die Werkstatt mit dem Geruch nach Eisen und Öl neben dem kleinen Büro heimelte Niklaus an und er schätze es auch, mit den Arbeitern und Lehrlingen das Mittagessen im Restaurant einzunehmen.

Zuhause schweisste Papa einen Halter um Fahrräder zu befestigen und einen Zentrierbock, nachdem er an Mama’s Velo das Hinterrad beschädigt hatte. Niklaus hoffte, dass auch Kollegen oder Nachbarn ihm hie und da ein Fahrrad zur Reparatur bringen würden.
Anfangs September kam Herr Arnold in die Landmaschinen-werkstatt von Anton Sutter und vereinbarte mit Herr Sutter ein Arbeitsverhältnis auf weitere Sicht. Mehr als drei Tage Arbeit in der Woche würde die Büroarbeit nicht beanspruchen, wenn vorerst alle zurückgelegten Rechnungen nachgeschrieben seien, hiess es. So solle sich Niklaus noch um eine andere Teilzeitstelle kümmern. Schon Mitte September fühlte sich Niklaus nicht mehr ausgelastet und erhielt oft freie Tage. Herr Sutter hätte ihm eigentlich gerne das Ersatzteillager anvertraut um die Arbeitskräfte voll für Reparaturen, Service und Montagen einzusetzen. Der lahme rechte Arm und das verletzte Kurzzeitgedächtnis setzte bei dieser Aufgabe Grenzen, an die Niklaus ungern anstösst. Ende September brachte dann Niklaus die Nachricht heim, dass Frau Sutter die Büroarbeiten wieder selber bewältigen wolle. So schrieb er während den letzten Arbeitstagen im Oktober einige Bewerbungen, zwischendurch füllten wir die freien Tage mit Bergtouren aus. Herr Sutter stellte Niklaus ein gutes Zeugnis aus, belohnte ihn mit einem schönen Trinkgeld und meinte, er solle sich bei der Post bewerben.
Mitte November hatten wir nochmals eine Untersuchung bei Dr. Rast. Er stellte keine grossen Veränderungen am rechten Arm fest und bewilligte weiterhin die Physiotherabie bei Roman Neuber, damit Achsel- und Ellbogengelenk nicht versteifen. In Zukunft wird aber der Kreisarzt der SUVA darüber zu entscheiden haben.

 

Mitarbeit bei der SPARAD-Übernahme

Am 25. November bekam Niklaus die Chance, sich bei Herr Schläfli von der St.Gallischen Kantonalbank vorzustellen. Sie suchten Aushilfen für die SPARAD-Daten-Übernahme. Vreni Selva, die Tochter unserer langjährigen Nachbarin hat uns darauf aufmerksam gemacht. Schon drei Tage später erhielt Niklaus den Arbeitsvertrag für zwei Monate. So begann er am 29.11.1994 im vierstöckigen Hauptsitz der Bank mit einigen Hausfrauen seine Arbeit. In sein Tagebuch schrieb er an einem Abend 'die Arbeit ist ähnlich wie zu Beginn meiner Brügglizeit, jedoch viel besser bezahlt.' Er musste den Kundenstamnm der SPARAD mit demjenigen der St.Galler Kantonalbank vergleichen. Am 1. Dezember schlug man ihm vor, dass er anschliessend an die Aushilfstätigkeit bis Juni bei der Datenübernahme der Kommerzbank behilflich sein könne und wir schlossen daraus, dass sie mit ihm zufrieden seien.
Während der Mittagspause hatte Niklaus zuerst Schwierigkeiten, ein zufriedenstellendes Mahl in guter Atmosphäre zu finden. Nach einem Tip von seinem Freund Lukas ass er im Restaurant Papagei, wo er nach dem Essen auch die Zeitung lesen konnte. Im Arbeitsteam entstand ziemlich schnell ein guter Geist. Niklaus wurde zum 'Hahn im Korb'. Die Arbeit wurde ab Mitte Dezember anspruchsvoller, sie gelang aber nach anfänglichen Schwierigkeiten immer besser. Wurde es einmal zu anstrengend, merkte Niklaus, dass er abends eine Stunde früher Feierabend machen musste. Das konnte er gut, denn er war ja im Stundenlohn angestellt. Die IV musste ihn bei dieser Stelle nicht unterstützen und ergänzen. Über Weihnachten und Neujahr hatte er keine Ferien und ab 13. Januar arbeitete er mit jungen Leuten (ein Bankangestellter, eine Büroangestellte, ein Student und eine Studentin) im Gebäude der ehemaligen SPARAD. Herr Stöckli als Leiter begleitete ihn bei anfänglichen Schwierigkeiten. Niklaus fiel auf, dass sie auf engem Raum mit wenig Tageslicht arbeiten müssen; dank der guten Atmosphäre war dies jedoch erträglich. Er erfuhr neue Herausforderungen und sprach oft mit Papa das Bankwesen. In den zwei Wochen, in denen das Restaurant Papagei wegen Ferien geschlossen hatte, folgten anstrengende Mittagspausen.
In Selbstbedienungsrestaurants von Kaufhäusern musste er zulange anstehen und das Tablett zu tragen mit nur einer Hand war schwierig. In einem anderen Restaurant kostete ihm das Menu zu viel. So freute er sich wieder auf die Bedienung der Auswahlmenues im Papagei und kam mit den bekannten Tischgenossen hie und da ins Gespräch. Zwischendurch gesellten sich auch Kollegen dazu. Niklaus versuchte nebst dem wöchentlichen Training mit der Aktivriege auch den Schwimmsport als Ausgleich zum steten Sitzen auszuüben. Wenn aber zu viele Leute im Wasser waren, hörte er mit dem Rückenschwimmen mit Flossen schon nach kurzer Zeit wieder auf. Darum freute er sich auf den Sommer und hoffte, mit den Kollegen ab und zu an den See fahren zu können.
Das Team im Geschäft leistete so gute Arbeit, dass manchmal damit gespart werden musste. So beendete Niklaus die Arbeitstage oft früher. Das Ende des Arbeitsverhältnis rückte näher und wir alle suchten eine neue Stelle. Herr Schläfli von der Bank versprach, Niklaus zu berücksichtigen, sobald wieder geeignete Aufgaben anstehen würden. Er arbeite zuverlässig und exakt nach anfänglichen Schwierigkeiten, dementsprechend brauch es Bereitschaft und Geduld von dem Leiter.

 

Stellensuche

Bis heute schrieb er schon viele Bewerbungen und geht jeden Dienstag auf die Gemeinde stempeln und schämt sich nicht. Er sagt, das sei eine Versicherung wie jede andere auch. Der zweiwöchige Kurs in St.Gallen, welcher vom Arbeitsamt vorgeschrieben ist, brachte einige neue Impulse und Kontakte zu anderen Arbeitslosen. Die IV bezahlt Umschulungen und eventuelles Einarbeiten. Du SUVA stellt eine Rente in Aussicht, falls innerhalb von 1.5 Jahren keine Arbeit gefunden wird. Niklaus holt ständig die Fachzeitung bei Velo Pichler und hofft, doch einmal auf einem Versandbüro von Ersatzteilen und Zubehör für Fahr- und Motorräder Arbeit zu finden. Nach einer Blindbewerbung konnte er sich sogar einmal vorstellen bei Th. Wichser, Zweiradzubehör in Fehraltdorf. Doch da wurde das Holen und Verpacken der Teile verlangt, was mit einer Hand leider nicht möglich ist.
So hofft und sucht er weiter in vielen Tageszeitungen nach Stellenangeboten und schreibt zum Zeitvertreib seine Unfallgeschichte fertig. Mit dieser Erzählung entsteht ein Andenken auch für seine treuen Kollegen und interessierten Bekannten und Verwandten.

 

Familienleben heute

Heute, dem 25. Oktober 1995 ging Niklaus wieder in die Kirche danken und bitten. Sein Bruder Franzjosef kann zwar nicht mehr mit ihm rammeln, dafür geht er immer gerne mit den Hausaufgaben zu seinem Bruder, wenn er etwas nicht versteht. Judith profitiert auch von Niklaus. Er befasst sich seit dem Unfall viel mehr mit ihr mit Spass und Zankerei und holt sie während der Arbeitslosigkeit vom Bahnhof ab. Anita kann ihren Bruder jetzt wieder akzeptieren und ist öfters auf seinen Computer und Hilfe beim Bedienen angewiesen.
Papa gewöhnte sich daran, dass sein ältester Sohn nicht mehr viel im Betrieb mithelfen kann und freut sich, dass er wenigstens anfallende Schreibarbeiten erledigen kann. Das häufige Jassen mit ihm baute er ab. Ich als Mutter bin dankbar, wenn ich jeden Tag die Kraft und Gelassenheit bekomme, die Geduldsproben wegen seines verletzten Kurzzeitgedächtnis zu bestehen.
Nach harten Auseinandersetzungen und Mahnungen bin ich manchmal froh, dass er es ja wieder vergessen kann. Meine Aufgabe, aus ihm einen selbständigen Hausmann zu machen, scheint mir fast eine Illusion. Er wird sein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Dass man aber in jedem Leben nicht nur angenehme oder interessante Arbeit leisten kann und deshalb auch solche mit mehr Freude und Bereitschaft annehmen sollte, möchte ich gerne in sein Langzeitgedächtnis speichern!!!




 

Nachwort: ich danke allen vielmals, die in irgendeiner Weise zu meiner Genesung beigetragen haben


Vor allem ...

... meiner Mutter und der ganzen Familie

... meinen guten Kollegen

 

Auch hoffe ich, mit dieser Geschichte Verunfallten und deren Angehörigen ein Lichtblick zu schenken

 

 

 

 

die fehler, die sie finden, dürfen sie behalten