25. Oktober 1991:: Heute feiern wir das zweite Geburtsdatum von Niklaus. Sein Motorradunfall vor einem Jahr hätte ihn uns sterben lassen können, was eine Riesenlücke in unsere Familie gerissen hätte. Auch er schätzt sein Leben trotz den schweren Folgen wieder und ging heute zu unserer Überraschung aus eigenem Willen in die Pfarrkirche danken. Abends weinte er zwar doch nochmals, wie schon öfters. Jedesmal lösen sich dann auch bei mir die Tränen.
Die Hirnverletzung lässt Dich, Niklaus, nicht an den Unfall, an das Jahr davor und danach nur schwach erinnern. Darum will ich Dir davon erzählen:
Der lange Traum
Es war der erste neblige Morgen im Herbst 1990. Am Abend davor war der Himmel
voller Sterne. Ich besuchte mit Frau Gmür Frau Koch, die wegen den übermässigen
Rückenschmerzen um Kraft und Humor kämpfte. Wir machten mit ihr einen
Abendspaziergang.
Du warst noch am Fernsehen, als ich um 22 Uhr nach Hause kam,
Papa war schon im Bett. Ich schimpfte mit Dir: «Morgen musst Du zur Schule, man
kann doch nebst den Aufgaben nicht noch alle Filme in den Kopf beigen!»
Am
Morgen warst Du still wie öfters am Tisch, ich erinnere mich aber, dass Du
abwesend und zerstreut wirktest. Der kalte Nebel passte Dir wahrscheinlich
nicht, oder warst Du mit dem Kopf schon in der Schule? Weil Papa noch in der Alp
zu tun hatte, musste auch ich meine Arbeit einteilen: sein Mittagessen
vorbereiten, um es in die Isolierflasche zu füllen, haushalten, das
Milchgeschirr und den Brunnen waschen und den Stall fertig machen. Ich kaufte
beim Milchmann unter anderem eine Flasche Kaffeerahm für Dein Alpweekend, das Du
mit den Kollegen vorhattest. Erst um 10.30 Uhr kam ich ins Haus zurück, mit
Brot, Butter und eben dem Kaffeerahm in den Händen. Dann folgte das Pech beim
Einräumen: der Kaffeerahm rutschte mir aus. Die Flasche lag in Hunderten von
Splittern in der weissen Masse.
Etwas verärgert räumte und wischte ich auf,
wurde dann aber vom Schrillen des Telefons unterbrochen. «Notfallstation des
Kantonsspital St. Gallen, Frau Manser, einen Moment bitte, ich verbinde Sie mit
dem Arzt.»
In meinem zwar gefassten Schreck empfand ich diesen Moment, wie auch
den zweiten sehr, sehr lang. Ich dachte an Judith und an Franzjosef: «Ist ihnen
wohl in der Pause etwas geschehen?» «Frau Manser, sind Sie noch dran, einen
Moment nochmals, der Arzt kommt sogleich», und schon war die Stimme wieder weg.
Da meldete sie sich noch einmal und ich bat sie, mir doch endlich zu verraten,
was geschehen ist. «Ja, wir versuchen Sie schon seit neun Uhr zu erreichen, aber
niemand meldete sich. Ihr Sohn Niklaus ist mit dem Motorrad schwer verunglückt
und wurde mit der Rega um zwanzig vor neun Uhr zu uns gebracht», war die
Antwort, «so, nun habe ich die Verbindung mit dem Arzt, alles Gute Frau Manser.»
Ich weiss den Namen des sprechenden Arztes nicht mehr, aber er versuchte, alle
meine stürmischen Fragen zu beantworten. Er wusste, dass Niklaus um 7.50 Uhr
beim Restaurant Landbau vor Muolen verunglückte und um 8.40 Uhr mit der Rega
bewusstlos eingeliefert wurde. «Die Folgen des Unfalls sind nicht harmlos, Frau
Manser», tönte es noch lange in meinen Ohren. «Wir untersuchten Herr Manser
unter Narkose und stellten fest, dass er Quetschungen auf der Lunge hat und
deshalb nicht selber zu atmen vermag. Sein rechter Arm scheint gelähmt zu sein,
denn gebrochen ist nichts. Selbstverständlich können Sie vorbeikommen, aber im
Moment können Sie ihrem Sohn nicht gross helfen.»
Ich kehrte zu meiner
begonnenen Arbeit zurück, der Kaffeerahm reute mich jetzt nicht mehr, weil das Alpweekend sowieso abgesagt werden musste.
Ich liess meinen Gedanken freien
Lauf. Edith, unseres Nachbars Tochter, welche vor einigen Jahren einen so
schlimmen Unfall mit schweren Folgen durchlitt, kam mir in den Sinn. Wird
Niklaus im Rollstuhl landen? Warum ist er überhaupt verunglückt? War ich froh,
dass er niemand bei sich hatte, dass niemand unschuldig in den Unfall verwickelt
wurde.
Soll ich jetzt Papa benachrichtigen, ist es überhaupt nötig? Soll ich ihn
nicht noch diesen Nachmittag unbesorgt in seiner geliebten Alp arbeiten lassen?
Ach, wäre Niklaus doch mit dem Zug zur Schule gegangen! Ich hätte ihn früh
wecken und ihm sagen sollen, dass es Nebel hat.
Ich klagte die schlechte
Nachricht Frau Baumgartner in der oberen Wohnung und bat sie, mich ins Spital zu
fahren und eventuell die Kleinen von der Schule zu empfangen.
Auf der
Notfallstation begann dann schon das lange Warten. Endlich kam ein junger Arzt
und schenkte mir einige Minuten Zeit. Auch er wusste nicht, wieso Niklaus
verunfallte, vermutete einfach, dass er wie alle Motorradfahrer zu schnell
gefahren sei. «Verbieten sollte man einfach diese Motorräder» meinte er, «es ist
reiner Wahnsinn, wie viele junge Leute ständig bei uns landen.» Ich wehrte mich
schon ein wenig gegen diese Anschuldigung: «Natürlich war auch ich gegen dieses
grosse Motorrad und hatte den ganzen Sommer Angst. Aber es gibt auch Unfälle mit
Autos.»
Niklaus glaubte mit seinem Beruf als Motorradmechaniker schon mit 18 Jahren
Recht auf ein grosses Motorrad zu haben. Zudem verdiente er es selber; auch für
die Sicherheit sorgte er und kaufte sich einen guten Helm, ein tolles
Ledergewand und eine schlagfeste Brille. Somit glaubte er sich geschützt, auch
wenn mal etwas passieren würde.
«Ja, Frau Manser, nun ist eben doch mehr passiert», und er wiederholte die
momentanen Feststellungen welche sein Kollege erläuterte: «Die Schatten auf der
Lunge werfen noch Rätsel auf. Kommen Sie um 16 Uhr auf die Intensivstation,
jetzt können Sie nur mehr stören als nützen.»
Mit dem Wunsch, Dich sehen zu können, bewegte ich mich etwas verirrt und
enttäuscht nach draussen ins Empfangsbüro. Da traf ich eine Bekannte aus
Appenzell, welche auch in Wittenbach wohnt. Anscheinend arbeitete sie im Spital und war im
Begriff, sich von ihrer Kollegin zu verabschieden, welche ihr gerade über den
neuesten Fall Bescheid erteilte. Ich bat sie, mich mitzunehmen, um nicht
nochmals Frau Baumgartner beanspruchen zu müssen, so mitten in der Vorbereitung
des Mittagessens. Ganz selbstverständlich chauffierte mich Marie-Louise heim und
erzählte mir von ihrer Angst, welche sie ständig plage, wenn ihr Sohn seinem
gefährlichen Hobby Delta-Segeln nachgehe. Wir stimmten gemeinsam überein mit dem
bekannten Spruch 'kleine Kinder, kleine Sorgen, grosse Kinder, grosse Sorgen'.
Franzjosef war schon bei Frau Baumgartner, er erinnert sich noch heute an die
ungewohnt leere Küche und glaubt auch, an jenem Vormittag den unheimlichen Lärm
vom Krankenauto und dem Helikopter gehört zu haben.
Ja, ich war froh, dass ich
am Morgen auch für uns vorgekocht hatte; eine Suppe dazu war schnell zubereitet.
Judith traf auch ein und so dachten wir zu dritt während dem Essen nach, wieso
Du mit dem Motorrad verunfalltest. Judith wollte wissen, ob Du jetzt im Spital
isst, ob Du Schmerzen hast, ob Du Pflästerli brauchst und nahm sich den Vorsatz,
am Abend für Dich zu beten, dass Du wieder gesund wirst. Franzjosef meinte, ihm
mache es nichts aus, wenn sein Bruder behindert wie Judith heimkomme, nur
laufen, mit ihm spielen und rammeln sollte er noch können. Schon kam ein Telefon
von einem Mitschüler aus Weinfelden. Mit dem Kantinelärm im Hintergrund
erkundigte sich Martin nach Deinem Verbleiben.
Erst jetzt wurde mir klar, dass
ich auch andere Bezugs-personen informieren musste. Ich telefonierte Herrn
Bühler, Deinem zweiten Chef ab dem 15. Oktober, sowie auch Familie Studerus.
Sobald die Kleinen wieder in der Schule waren, versuchte ich die Polizei zu
erreichen, um Näheres über den Selbstunfall zu erfahren. Die St.Galler Polizei
wies mich zur Thurgauischen, welche mich erst später mit dem zuständigen Mann
verbinden konnte. Unterdessen traf auch Deine Schwester Anita ein. Die schlechte
Nachricht traf sie tief, sie wurde bleich und nachdenklich. Dann telefonierte
ich ins Gasthaus Lehmen; ob jemand Papa in der Alp benachrichtigen könne. Er
musste ja früher als geplant heimkommen, weil ich statt die Kühe zu füttern, zur
Intensivstation wollte. Hermann, der Wirt, fuhr persönlich in den Böhl mit der
schlechten Botschaft. So erreichte ich dann endlich auch den zuständigen
Polizisten von Horn. «Ja, ihr Sohn ist bei der Linkskurve beim Ballen direkt in
einen Baum gefahren. Der Betonpfahl davor schleuderte die hintere
Motorradverkleidung weg. Niemand hat ihn gesehen, wie er fiel. Er muss zu
schnell gefahren sein, den die Schule hätte ja um 8 Uhr begonnen.» Schon wehrte
ich mich wieder einer Anschuldigung: „Die Schule beginnt um 8.30 Uhr in
Weinfelden und als Raser ist Niklaus nicht bekannt. Wieso liess man den
Verunfallten eigentlich so lange liegen?“ Gegen diesen Vorwurf wehrte sich
natürlich der Polizist: Di Wirtin vom Restaurant Landbau hat die Polizei sofort
benachrichtigt, welche ihr Bestes zu tun versucht hat. Bis zu ihrem Eintreffen
hat ein Verkehrsteilnehmer Erste Hilfe geleistet. Die Benötigung der Rega
brauche nun mal seine Zeit. Ich antwortete, dass wahrscheinlich jede Angehörige
eines Verunfallten im ersten Schock der Meinung ist, die Folgen des Unfalls
wären weniger schlimm, wenn schneller gehandelt worden wäre. Der Polizist gab
mir noch zu wissen, dass die Schultasche und die Ausweise bei ihnen abzuholen
seien. Dann begab ich mich in Dein Zimmer und fand einen Schulordner offen neben
dem ungemachten Bett. Während ich ihn durchschaute und anschliessend betete,
tauchten wieder Fragen auf: Warum ..., hat er diesen Ordner vergessen, lernte er
morgens noch darin, war er überfordert wegen dem geplanten Alpweekend und heute
Abend sollte er ja noch zum Pfadi-Höck nach Rotmonten?
Wir kümmerten uns so
wenig um seine Pflichten, er erzählte ja auch nicht viel davon und war so
selbständig. Wir mussten ihn morgens nie wecken! Ich wusste nicht einmal ob er
heute wirklich später dran war als sonst. Frau Baumgartner fuhr mich dann
nochmals ins Spital. Da lernte ich die Intensivstation kennen: in einem
einfachen, kleinen Raum sind Stühle an die Wand gereiht. Ein Gestell voller
grüner Rockschürzen laden dazu ein, sich auf den Besuch der Patienten
vorzubereiten. Eine freundliche Schwester öffnete die matte Glastüre auf das
Melden mit der Anmeldeglocke. Sie erkundigte sich nach dem Namen, auch dessen
des Patienten und ging ins entsprechende Zimmer nachsehen, ob der Besuch
eintreten könne.
Intensivstation
Gefasst schritt ich zu Deinem Bett; totenblass
war Dein Gesicht, aber nicht entstellt. Deine entblösste Brust war voller Kabel,
in Deine Nase führte ein dünner Schlauch, welcher Dir Sauerstoff zuführte. Im
Hintergrund liess eine Apparatur voller Lichter und Kurven ein nervöses,
monotones Tönen von sich hören. Ich war überrascht, dass sich noch drei
Patienten im kleinen Raum befanden. Eine eigenartige Stimmung umgab uns alle.
Die Schwestern und Pfleger wirkten ruhig. Ein Arzt kam auf mich zu: «Sind sie
die Mutter von Herr Manser?» Nach meiner Bejahung reichte er mir die Hand und
sagte mit ernster Miene, dass es Zeit wäre, dass Herr Manser aus seiner
Bewusstlosigkeit erwachen würde. Er wiederholte nochmals, was sie bis anhin mit
Dir gemacht haben und empfahl mir, nach Möglichkeit in Verbindung zu bleiben,
sei es mit Besuchen oder Telefonanrufen. Gerade in ein stilles Gespräch mit Dir
versunken, wurde mir befohlen, das Zimmer zu verlassen. Die Schwester übergab
mir noch Deine Kleider in einem Plastiksack und machte mich darauf aufmerksam,
eines von den aufliegenden Merkblättern im Warteraum mitzunehmen. Darin las ich
dann, dass nur Angehörige die Patienten jeweils von 10-11 Uhr und von 16-20 Uhr
besuchen können, aber nicht länger als zehn Minuten.
Enttäuscht darüber, dass Du immer noch bewusstlos da- lagst und dass ich nur so
kurze Zeit bleiben durfte, suchte ich eine Telefonkabine und bat Frau
Baumgartner, mich wieder zu holen. Papa war nun Zuhause und erfuhr die näheren
Angaben zum Unfall bei seiner Ankunft von Baumgartners. Gefasst nahm er den
neuesten Stand der Folgen auf und wir beschlossen, nach seiner Stallarbeit
nochmals gemeinsam ins Spital zu gehen. Judith und Franzjosef verweilten schon
im oberen Stock bei Baumgartners und fanden es spannend, was Mama von der
Intensivstation erzählte. Sie hofften ganz fest, dass ihr grosser Bruder nicht
stirbt. Unser Abendbesuch konnte nicht viel verändern. Du hast Dich zwar öfters
auf der linken Seite bewegt, hast dabei aber geschlafen. Papa wollte die kurze
Besuchszeit genau einhalten, was mir sehr schwer fiel. Zuhause benachrichtigten
wir noch Deinen Götti und Grossmutter. In der Nacht schliefen wir schlecht, wir
redeten von Edith's Unfall. Wird bei Niklaus nun auch so ein langer
Spital-aufenthalt folgen? Am folgenden Morgen erkundigte ich mich sofort
telefonisch nach Deinem Wohlergehen, nachdem Deine Geschwister aus dem Hause
waren. Niklaus sei noch immer im bewusstlosen Zustand, bekam ich zur Auskunft.
Da wurde mir bewusst, dass wir uns auf eine längerfristige Sache einstellen
müssen. Ich bereitete nach dem Haushalten ein kurzes Mittagessen vor und fuhr
nach 10 Uhr zur IPS, wie das Personal auf der Intensivstation ihren Arbeitsplatz
nennt.
Es war gerade Arztvisite, als ich zu Dir wollte. Ein fröhliches Fräulein bat
mich zu warten. Schon gesellte sich noch eine Frau zu mir, die ihren frisch
operierten Mann besuchen wollte. Während sie mir dessen Krankengeschichte
erzählte, legte sich meine Spannung, die Wartezeit verlief schneller. Als ich
dann verloren bei Dir stand und Deine unruhige linke Hand in meine legte, nahm
ich mir vor, die vorgeschriebene Besuchszeit von zehn Minuten nicht einzuhalten.
Ich wartete, bis mich jemand aufforderte zu gehen. Der Pfleger hatte Verständnis
und liess mich lange dasitzen. Ob er wohl ahnte, wie sich Angst und Hoffnung in
meinem Innern bekämpften? „Ich komme um 16 Uhr wieder“, versprach ich beim
Abschied. Auf dem Heimweg fuhr ich zu Herr Vikar in St.Konrad und fragte ihn, ob
die Priester mit ihren vielen Aufgaben in der Gemeinde auch noch Zeit hätten,
für unseren verunglückten Sohn zu beten. Er segnete mich für die kommende
schwere Zeit und versprach, alle zum Beten aufzufordern. Anschliessend holte ich
in der Apotheke Stärkungsmittel und Johanniskrauttee, um meine gespannten Nerven
kräftig zu unterstützen.
Beim Mittagessen machte ich den jüngeren Geschwistern
klar, dass Mama in den nächsten Tagen öfters im Spital bleiben werde, dass sie
aber bei meiner Abwesenheit zu Frau Baumgartner gehen dürfen. Natürlich war sie
auch gerne dazu bereit, was für mich eine grosse Erleichterung war.
An jenem Vesper sassen noch andere Personen im Warteraum. Alle wirkten bedrückt
und waren still. nach meiner Anmeldung erläuterte die nette Schwester, dass ich
vor 17 Uhr nicht zum Patienten gehen könne. So entschloss ich mich erstmals in
die bekannte Spitalkappelle zu gehen. Ich befand mich ganz alleine im stillen,
wohltuenden Raum mit Jesus am Kreuz in der Mitte. Rechts am Altarende strahlte
Maria von Blumen und brennenden Kerzen umrahmt ihre Demut aus. Auch ich zündete
eine Kerze an und liess meinen Tränen freien Lauf. Ich betete um Kraft, das
Schicksal zu ertragen, komme es wie es wolle. Im gleichen Atemzug bettelte ich
aber stets: „Lass seinem guten Kern nochmals Gelegenheit zu leben. Seine
jüngeren Geschwister brauchen ihn ja noch so sehr.“ Dieser stille Ort war dann
in all den vielen Wochen Deines Spitalaufenthaltes meine kräfte-spendende
Zuflucht, bei langen Wartezeiten auch ein entspannender und sinnvoller
Zeitvertreib.
Ja, auf der IPS waren alle Ärzte beunruhigt ob Deinem Zustand. Dein linkes Hirn
sei angeschwollen, es bestehe die Gefahr, dass es weiter anschwillt. Du
bewegtest Dich immer heftiger, was Dein Atmen erschwerte Sie würden Dich ruhig
stellen, d.h. drei Tage ins Koma (klinischer Tod) versetzen und dem Sauerstoff
ein chemisches Mittel beigeben, das dafür sorge, dass die Schwellung sich
zurückbildete. Ich durfte zusehen, wie sie Dich vorsichtig von Kopf bis Fuss
wuschen und frottierten. Für mich war das Ansehen Deiner Blösse eine Qual. Ich
hätte Dich am liebsten zugedeckt; ich meinte, nach so langem Daliegen frierst Du
doch. Die vollbeschäftigten Schwestern, Pfleger und Ärzte waren doch auch mehr
bekleidet. Natürlich schwitzte ich in meinem Pullover und der obligatorischen
Schürze nicht.
Am Abend fuhr ich nochmals mit Papa zu Dir. Ein anderer Arzt unterrichtete uns
über das bevorstehende Vorhaben. Du wirktest nun ruhig und der Pfleger mahnte,
Dich nicht zu streicheln, das würde Dich nur irritieren. So blieb uns nichts
anderes übrig, als still dazustehen und unsere angstvollen Gedanken zu
untergraben. Wird er rechts gelähmt sein, wird er je wieder einmal gehen und
reden können? Zum Glück ist sein Rücken nicht verletzt. So begannen wir, etwas
Positives zu betrachten. Zuhause angelangt erzählte uns Franzjosef, dass zwei
Bekannte sich nach Deinem Wohlergehen erkundigt hätten. Da sahen wir ein, dass
es besser sei, wenn Mama tagsüber und Papa am Abend Dich besuchen gehe, weil
sonst die Kleinen zu kurz kommen würden und zappelig werden.
So warst Du Samstag, Sonntag und Montag in einen Tiefschlaf versunken. Sämtliche
Funktionen nahmen Dir die Maschinen ab und sie überwachten auch Deine
Reaktionen. Wir sassen so viel wie möglich bei Dir, beteten stille und
wünschten, dass alles gut verliefe. Zwischendurch erlebten wir auch Deine
Mitpatienten, die meistens nach Operationen aus ihrer Narkose erwachten. Einigen
fiel das Atmen schwer und sie bekamen eine Glocke vor die Nase, wie auch Du eine
hattest. Seit Deinem Eintritt gab es natürlich schon einige Wechsel. Im
Warteraum war hie und da eine ganz besondere Atmosphäre. Vielen tat es wohl,
wenn sie über ihr Leid klagen konnten. Fragten Sie nach unserem jungen Burschen,
waren sie mit dem eigenen Fall meist wieder zufrieden.
Daheim mussten wir immer häufiger
Telefonanrufe beant-worten. Wie gerne hätten wir bessere Nachrichten
über-mittelt. Einige Verwandte waren entsetzt und fassungslos ob Deinem Zustand.
Alle versprachen für Dich und für uns zu beten. Viel lieber waren mir jene
wenigen Mitmenschen, die uns Mut zusprachen, die optimistisch dachten und uns
positiv beeinflussten. Unter jenen befanden sich zwei Frauen, die jetzt
regelmässig im Warteraum der IPS anzutreffen waren. Ihre Männer litten unter
Krebs und landeten nach einer schweren Operation auf der IPS.
Die eine Frau erzählte mir, dass ihr Mann schon seit Weihnachten hier im Spital
zwischen Abteilung und IPS pendle. So fährt sie täglich aus Österreich über die
Grenze zu Besuch, manchmal begleitet von ihrer 13jährigen Tochter, mit der ich
auch einmal intensiv ins Gespräch kam. Auf jeden Fall rühmten sie die Ärzte in
St.Gallen und hofften sehr auf ihre Hilfe, was der Patient selbst vorbildlich
tue. Im Glasergeschäft zuhause in Lustenau dürften sie grosse Hilfsbereitschaft
erfahren.
Die andere Frau kam von St.Gallen und erzählte mir, wie sie schon anfangs der
Pensionszeit von der heimtückischen Krankheit erfahren mussten. Ganz bewusst
machten sie auf Rat des Hausarztes gemeinsame Ferien in Graubünden, um Kräfte
für die kommende, schwere Zeit zu sammeln. Ja, mit viel Vertrauen und Zuversicht
versuchte sie nun, zweimal im Tag ihrem Mann auf der IPS beizustehen. Auch er
erwachte erst nach längerer Zeit und war am Anfang zu schwach, die Augen zu
öffnen und zu sprechen. Die Frau riet mir, die Angst mit positivem Denken zu
verdrängen. Ihr Arzt habe ihr bewusst gemacht, dass wir einfach fest wünschen
müssen:
Du wirst wieder gesund - nur dürfe man keine Zeit festlegen.
An meinem Willen fehlte es nicht; in der Spitalkappelle lud ich stets meine
Ängste ab, indem ich meinen Tränen den Lauf liess, da mir auch Anita Kummer
machte. Ich staunte eigentlich oft, dass dieser stille, tröstende Ort nicht mehr
von andern benutzt wurde.
Unterdessen haben sich auch Deine Kollegen immer wieder nach Deinem Zustand
erkundigt und wollten Dich besuchen. Die Ärzte und Schwestern erlaubten, dass
ein oder zwei Freunde Dich besuchen dürfen, nur mussten es stets die gleichen
sein.
Marcel und Ralph haben sich bereit erklärt und kamen nun täglich kurze Zeit zu
Dir. Sie versuchten Dir vom Tagesgeschehen, vom einst geliebten Sport und von
alten Erinnerungen zu erzählen, um Dich endlich wach zu rufen.
Dein Zustand verschlechterte sich, Du kämpftest mit einer Lungenentzündung. Ich
glaubte, die schwache Bedeckung sei schuld. Die Ärzte stellten jedoch fest, dass
die Schatten auf der Lungen jenes Blut war, welches Du beim Unfall wegen starkem
Nasenbluten geschluckt hast. Da sei eine Lungenentzündung eine normale Folge. So
ein junger, gesunder und kräftiger Bursche werde das schon überstehen, meinte
der Arzt achselzuckend.
Du kämpftest mit dem Husten, der Dir jetzt hie und da die Augen aufschlug. Du
hattest Fieber und zittertest manchmal am ganzen Körper, der mehr und mehr an
Gewicht verlor. Es war so schrecklich dabei zu sein und nicht helfen zu können.
Die Schwestern mussten ständig das Sekret absaugen, weil Dir die Kraft fehlte,
es auszuspucken.
Hie und da traf ich mit Ralph und Marcel im Warteraum zusammen. Ich konnte ihnen
ablesen, wie auch sie mit der Hoffnung auf Besserung kämpfen mussten. Die
Schwestern waren sehr beeindruckt, wie sich die zwei Freunde von Deinem Zustand
belasten liessen und mit Dir litten. Wir in der Familie hatten auch mit Zweifeln
zu kämpfen. Dennoch versuchten wir uns gegenseitig Hoffnung zu machen.
Die ersten Augenblicke
Am 1. November öffnete sich erstmals Dein
linkes Auge, was Du dann immer öfters auch mit beiden Augen versuchtest. Nur ein
schmaler Schlitz tat sich hie und da auf und ich probierte zuhause vor dem
Spiegel aus, wieviel man dadurch eigentlich sehen konnte: es war mehr als ich
glaubte.
Der Husten wollte und wollte nicht aufhören. Das Durchatmen fiel Dir schwer. Die
Ärzte und Schwestern standen ratlos zusammen, weil nach genügender Antibiotika
stets noch Fieber vorhanden war. Sie rätselten um die Ursache, die noch irgendwo
sein musste. Am anderen Morgen holte ich in der Apotheke Echinaforce, welches
empfohlen ist bei Infektionen. Die Ärzte gaben auf mein Bitten hin grünes Licht
und das Fieber verschwand. Ich bat auch um Bewilligung, Dir den Tee selbst zu
bringen, welcher Dir täglich, wie auch die Nahrung durch die Magensonde
verabreicht werden musste. Du hattest oft grosse Schweissperlen auf der Stirn,
welche ich Dir stets abwischen konnte. Immer mehr wagte ich es, positiv auf Dich
einzureden, wenn auch Papa meinte, das nütze nichts, denn Du verstehest es ja
doch nicht. Du warst total kraftlos und verspannt. So machte ich täglich
genügend Salbei mit Johanniskrauttee. Die Pfleger nahmen Dich jetzt hie und da
aus dem Bett und setzten Dich einige Minuten in einen Rollstuhl. Du hattest
Mühe, den Kopf gerade zu halten und Deine Knie zitterten vor Schwäche. Auch
banden sie Dich jetzt täglich in ein Stehbett, um den Kreislauf zu fördern und
Deine Kräfte zu stärken. Du konntest jetzt gut alleine Durchatmen und öffnetest
die Augen manchmal für kurze Zeit. Nun musstest Du die hohen Motorradstiefel im
Bett tragen, welche Tag und Nacht alle zwei Stunden ausgewechselt wurden. Das
bezweckte, dass sich keine Spitzfüsse bilden konnten. Es bestand die Gefahr,
dass sich beim langen Liegen der Achilles-Nerv verkürzt. Der Spitalpfarrer kam
auch hie und da vorbei und schmunzelte ob dem lustigen Aussehen; Niklaus mit den
weissen Gummistrümpfen und den schwarzen Schuhe im Bett. Dabei entrückte ihm ein
lustiger Witz, der mich trotz der ernsten Lage zum Lachen brachte. Dafür
vermisste ich enttäuscht den Segen für Niklaus und so segnete ich Dich jeweils
beim Abschied und wünschte, dass Gott bei Dir bleibe. Auch Willi Stolz, unser
Gemeinde-Vikar besuchte Dich einmal auf der IPS und schenkte Dir trotz Deinem
Schlafen einige liebe Worte. Jedoch hoffte ich auch bei ihm vergebens auf ein
spontanes Segnen. Bei einer späteren Diskussion mit dem Spitalpfarrer sagte
dieser mir, dass man dies persönlich wünschen müsse. Meine Zweifel, dass die
jungen Priester selbst nicht mehr an die Kraft des Segnens glauben, zerstreute
sich.
Wir versuchten auch, Dich
mit Deinen Musikkassetten via Kopfhörer zu wecken. Die Kurven des EKG-Monitors
zeigten auf, dass Musik Dich beruhigte. Auch die Körperwäsche hast Du immer
unbewusst genossen. Die Schwestern versuchten stets die Lagerung zu verändern
und deckten Dich jetzt mehr zu.
Der EKG-Monitor (hört Herztöne ab), der Subclaviakatheter (zentraler Venenkatheter, durch den man Flüssigkeit und
Medikamente in das Blutsystem leiten kann), die Temperatursonde (misst die
Körpertemperatur) und die Intubation (Tubis in Rachen und Luftröhre für die
künstliche Beatmung) waren ja nun von Deiner Brust abmontiert. Das war für uns
zuerst ein ganz unsicheres Gefühl. Die Kontrolle fehlte uns. Nur die Haube an
der Nase und der Schlauch für die Ernährung störte Dich noch unbewusst. Deine
linke Hand entkrampfte sich immer mehr und versuchte sich davon zu befreien.
Schon schätzten wir die kleinen Fortschritte, z.B. dass Du jetzt beide Beine
gleichmässig bewegtest, dass Du mit der flachen linken Hand die Augen ausreiben
konntest, dass Du sie auch hie und da ganz klar offen hattest und Dein Husten
mehr und mehr verschwand. Trotzdem sahen wir auch mitleidige Blicke vom
Pflegepersonal die aussagten, dieser Junge werde behindert heimkehren, er wäre
besser gestorben.
Umsomehr klammerte ich mich an die Aussagen von zwei
Schwestern. Die ältere Schwester erinnerte sich an einen ehemaligen Chefarzt,
der verboten habe, bei jungen Leuten Prognosen zu stellen, weil sie in der Regel
eher zu schwarz ausfielen. Eine andere Schwester setzte sich im Warteraum zu mir
und wollte mich vor ihrem Urlaub zuhause im Emmental aufmuntern. Niklaus
erinnere sie an ihre Kollegin, welche auch so ein Schädel-Hirntrauma hatte. Sie
habe sich lange Zeit kurz nach dem Essen nicht mehr erinnern können, was sie
gegessen habe. Nun studiere sie jedoch weiter Medizin.
Auch die freundliche
Empfangsschwester versuchte stets, mir Hoffnung zu machen. Unterdessen merkte
ich, dass sie für mich wie ein Pfortenengel war. Wir konnten oft kurz plaudern
und sie erklärte mir, dass sie keine Schwester, sondern nur ein gewöhnlicher
“Bürogummi“ sei, welcher aber über alle Patienten Bescheid wisse.
Immer neue
Gesichter wechselten sich im Empfangsraum ab. Uns gegenüber erlaubten sie schon
lange grösszügige Besuchszeiten, warst Du doch ein Langzeitpatient. Im Stehbett
wurdest Du immer kräftiger, auch im Sitzen im Rollstuhl. Deshalb wollte man Dich
von der IPS auf die Station versetzten, nur fehlte noch ein Zimmer. Am 10.
November war es dann soweit; im roten Ziegelbau bekamst Du auf der
neurologischen Abteilung ein schönes Einzelzimmer mit Dusche, WC und Lavabo. Das
war nach den 16 Tagen IPS ein besonderes Erlebnis für uns. Wir genossen zuerst
die Freiheit und die Grösse des Raumes. Auch Du versuchtest stets, Dich zu
erheben und schautest mit fragenden Blicken umher.
Einige der Schwestern haben
schon oft solche Patienten erfahren und machten uns auf die kommenden langen
Phasen aufmerksam, welche schwer zu ertragen sein werden. Sie rieten uns, Dir
möglichst viele Bilder und Sachen, die Dir vertraut sind ins Zimmer zu bringen.
So sollten Deine Erinnerungen Dich wachrufen.
Wir brachten Dir die Flugaufnahme
von unserem Zuhause mit, welche wir euch Kindern auf Weihnachten schenken
wollten. Anita brachte Dir den grossen Bär mit dem Stirnband und Leibchen vom FC Servette mit. Ich bat Sepp Metzger, Dir schöne Fahrrad- und Motorradposter aus
dem Geschäft mitzubringen. So hattest Du immer mehr Grund, mit grossen,
fragenden Augen umherzuschauen. Du wolltest Dich immer mehr und mehr aufrichten,
aber die Schwäche liess Dich stets wieder in die Kissen fallen. Deine
Motorradschuhe wurden immer noch fleissig ausgewechselt. Das Röhrchen an Deinem
Penis wurde entnommen, weil Du stets daran zupftest. Dann nähte man Dir ein
dünneres direkt auf die Blase im Bauch. Auch das störte Dich und Du versuchtest
ständig das Pflaster auf dem Bauch zu lösen. Das Röhrchen in der Nase, durch das
Dir die Nahrung direkt in den Magen befördert wurde, wolltest Du auch nicht in
Ruhe lassen. Im Halbschlaf warst Du stets am 'Grüble' in der Nase, am Penis oder
am Pflaster auf dem Bauch. Eine Schwester nannte Dich nur noch Grübeltante!
Bald
wollte Dich alles besuchen kommen. Wir erlaubten es nur Deinen Freunden, weil Du
noch so schwach warst und kein Wort von den Lippen brachtest. Oft war es auch
erschreckend, dich anzutreffen. Nach Bewegungsversuchen bist Du oft in den
unmöglichsten Stellungen dagelegen. Wie oft musste man Dir den lahmen Arm und
den Wasserbeutel von irgendwoher befreien. Die Schwestern hatten es streng mit
Dir und sie forderten Dich auch heraus. Beim Betten musstest Du auf einen Stuhl
sitzen und schon nach einer Woche versuchten Sie, Dir pürierte Menüs zu bringen,
nachdem Du schon öfters ein wenig Joghurt gegessen hattest.
Wie stolz waren Sie
über den Fortschritt, als sie Dir den ganzen Teller einlöffeln konnten. Nun
waren sie und Du von der Plage mit dem Röhrchen in der Nase erlöst.
Von nun an
machte Dir das Essen weniger Mühe als das Sitzen. Du wolltest immer sofort
wieder ins Bett. Ein Physiotherapeut kam auch, um Dir das Laufen beizubringen.
Du hattest Interesse daran, nur die Schwäche liess Deine Beine kaum gehen. Wir
mussten ein Paar leichte Schuhe ohne Gummisohlen bringen. Diese fanden wir bei
Baumgartners: die RS-Sonntagsschuhe von Andreas passten Dir ausgezeichnet. So
versuchten auch zwei Schwestern öfters mit Dir spazieren zu gehen. Ganz müde
wolltest Du Dich jeweils in jedes Bett legen, das im Gang umherstand. Riefen Dir
andere Schwestern den Namen, hast Du sofort die Konzentration verloren und Dein
rechter Fuss blieb stets hinter dem linken hängen. Auch starrtest Du meist in
die Luft und littest mit einem fragenden Blick unter diesem elenden Zustand. Ich
kam jeden Vor- und Nachmittag zu Dir und redete positiv auf Dich ein. Abends
ging immer Papa zu Dir, manchmal war jetzt auch Sepp Metzger mit dabei. Auch
Deine Schulkollegen von Weinfelden wollten zu Dir. Einige erschraken ob Deinem
Zustand, Kim aber war gefasst, weil sie schon einmal etwas ähnliches erlebt hat.
Sie brachte Dir ein schönes Motorradposter mit ihrer Unterschrift als Andenken.
Schon nach einer Woche püriertem Essen brachte man Dir die normalen Menüs. Deine
Freude am Essen kam wieder zum Vorschein. Das Kauen machte Dich zwar noch müde,
aber der Teller wurde trotzdem meist leer, was die Schwestern sehr erfreute. Das
Trinken machte Dir mehr Mühe: in kleinen Schlücken klappte es, in normalen Zügen
aber verschlucktest Du Dich stets.
Nun wurde Dir Dein Zustand immer mehr
bewusst. In wachen Minuten fingst Du jetzt zu weinen und zu schreien an. Meist
weinte ich einfach mit und erlebte damit mit Dir eine Erleichterung. Daraufhin
versuchte ich stets, Dich positiv aufzumuntern: «Deine Erholung braucht viel,
viel Zeit» sicherte ich Dir bei und zählte Dir immer wieder die bereits
vorhandenen Fortschritte auf. Obwohl Du kein Wort redetest, fühlte ich mich von
Dir verstanden. Du teiltest manchmal ganz vertrauensvolle Blicke aus. Eine
Schwester meinte einmal: «Schade, dass uns Niklaus nicht mehr seine lieben Augen
zeigt.»
Du schliefest noch so viel, dass sogar Papa hie und da an Deiner
Genesung zweifelte. «Er richtet sich ja nicht einmal mehr auf im Bett», jammerte
er eines Abends. Ich erklärte ihm, dass es Dir jetzt bewusst sei, wo Du liegst,
das Spitalzimmer sei Dir nun vertraut. Dein wütiges Schreien im Bett oder beim
Essen machten mir viel mehr Sorgen. Ich begann Dich zu belehren, weil ich hinter
Deinem Tun den altbekannten 'Granitkopf' vorfand. Darum brauchte ich auch harte
Worte und fühlte mich von Dir verstanden. Ich sorgte aber dafür, dass sich das
Personal ernstlich nach dem Schmerz im Bauch während dem Sitzen erkundigte. Es
stellte sich heraus, dass die Stelle, wo das Röhrchen (Zystofix) auf die Blase
genäht war, vereiterte. So wurdest Du sofort davon erlöst und bekamst Windeln.
Die Schwestern hofften, dass sich die Darmtätigkeit sowieso bald normalisieren
werde. So konnten wir Dir endlich auch Pyjamas anziehen, was etwas Farbe ins
Bett brachte. Deine Kontrolle über die Darm- und Blasenfunktionen liess aber auf
sich warten. Die Schwestern mussten immer wieder Dein Bett machen, weil Du stets
die Windeln löstest und Deinen Bedürfnissen freien Lauf liessest. Dazu kam, dass
Du manchmal die Windeln auch zerfetztest und unsere Mahnungen überhaupt nicht
achtetest. Wahrscheinlich passierte dies alles im Unterbewusstsein. Wir
verstanden nicht, wieso Du manchmal auch Deinen Kot in die Hand nahmst und Dich
und das Bett damit verschmiertest. War es Langeweile, Verzweiflung oder störte
es Dich einfach unter dem Gesäss, wenn nicht gerade eine Hilfe da war, die ihn
entfernte? Jedenfalls war es schockierend, Dich schlafend im verschmierten Bett
anzutreffen. Die Schwestern erklärten uns, dass dies jetzt eine Phase sei, der
wieder neue, andere folgen würden. Zum Glück war die herbstliche Natur noch da
und ich holte mir immer wieder Kraft und Hoffnung beim Hin- und Herfahren, indem
ich die Stimmung der farbigen Blätter und die der kühl-warmen Winde, sowie die
entsprechenden, immer blasser werdenden Wolkenbilder in mich senken liess.
Die
Jahreszeiten und das Leben haben ihre Phasen, sowie auch die Genesung von
Niklaus nun ihre Phasen durchleben muss, tröstete ich mich.
Immer wieder fragten
mich die Ärzte, ob unser Sohn noch nicht zu uns gesprochen habe, was ich stets
verneinen musste. Die Leute von draussen zweifelten fast mehr als wir selbst;
sie sahen ja nicht, was für einen gelösten, normalen Ausdruck Du während Deinem
ewigen Schlafen ausstrahltest. Nur wenn Du wach warst, wirktest Du oft leidend
und verstört. Jetzt drücktest Du häufig Deinen Kopf auf die Matratze oder sogar
an das Gitter. Schweissperlen sammelten sich jeweils auf Deiner Stirn, die wir
ständig abtrockneten.
Wir schlossen daraus, dass Du Kopfweh oder beinahe Krämpfe
hattest. Ich nahm das Kneipp-Leinentüchlein mit und legte es Dir feucht auf die
Stirn. Manchmal war es Dir willkommen, manchmal störte es Dich! Dann folgte ein
Ausschlag an der linken Stirn und wir glaubten, dass es eine Allergie von der
Spitalwäsche sei. So besprach ich mit den Schwestern, dass ich farbige
Frotteeleintücher mitbringe. Wir hofften, dass sie auch Dein Gemüt aufmöbeln
würden. Sogar die Schwestern und wir hatten das ewige 'Weiss' satt und freuten
uns am 'Rosa' und dem 'Blau'.
Komplikationen gab es aber mit dem Wechseln: da
neue Schwestern nicht wussten, dass die farbigen Leintücher privat sind,
landeten sie immer wieder in der Wäscherei, wo sie stecken blieben. Deshalb
beendeten wir diese Aktion nach zwei Wochen wieder. Du machtest ja auch
tropfenweise Fortschritte: Du konntest jetzt schon viel besser gehen, Joghurt
löffeltest Du jetzt selber aus und auch die Zähne konntest Du selber putzen,
wenn man Dich stützte beim Stehen. Ich verstand zwar nicht, wieso Du dies nicht
sitzend erledigen durftest, denn das Stehen machte Dich so müde.
Auch in der
Ergotherapie befolgtest Du die Anweisungen und Befehle der Therapeutin (mehr
oder weniger).
Nur warst Du immer wieder zu schnell müde, der Weg dorthin im
Rollstuhl war schon eine Anstrengung. Ich redete stets auf Dich ein, dass dieser
Zustand nicht ewig bleiben und dass alles wieder einmal besser werde. Wolltest
Du mal eine sinnlose Tätigkeit in der Ergotherapie verweigern (z.B. den Tisch
abwischen, der nicht beschmutzt war) erklärte ich Dir, dass dies nur Therapie
sei um zu erkennen, ob Du Befehle aufnehmen und ausführen könntest. Die
Ergotherapeutin hat Dir auch eine Schiene aus Gips für Deine rechte, gelähmte
Hand angefertigt. Sie sollte bezwecken, dass die Handballe in Form bleibt, falls
sie wieder einmal zum Arbeiten gebraucht werden kann.
Auch diese Schiene hast Du
öfters losgelöst und wir glaubten, dass dies eine Reaktion von verzweifelter
Langeweile in wachen Momenten war.
Dein Ausschlag an der Stirn hat sich von
selbst gelöst und auch Deine Krämpfe im Kopf ergaben sich. So legten wir Dir
wieder öfters den Kopfhörer mit Musik nicht direkt aufs Ohr, aber in die Nähe
aufs Kissen.
Manchmal drücktest Du sämtliche Kissen unter Deinen linken Arm und
nistetest umher. Es schien so, als könntest Du nicht genug Kissen haben. Eine
Schwester sagte, dass es wohl bald soweit sei, dass Niklaus einmal selber aus
dem Bett wolle und am Boden liegen bleibe.
Zwei Tage später war es tatsächlich
geschehen. Daraufhin wurdest Du im Bett angeschnallt. Man wollte nicht das
Risiko eingehen, dass Du Dich noch mehr verletzen würdest. Für Deinen
Bewegungsdrang war der breite Gürtel nicht angenehm. Deshalb vereinbarten wir
mit den Kollegen und mit Frau Baumgartner, Dich fast rund um die Uhr zu
'begleiten'. Die Schwestern staunten hie und da um unsere Besorgtheit und die
energische Oberschwester machte uns zwei Frauen sogar Vorwürfe, Niklaus zu
verwöhnen, ihn falsch zu behandeln. „Burschen in diesem Alter wollen keine
Zärtlichkeiten mehr“, behauptete sie. Wir wehrten uns dagegen und machten ihr
klar, dass wir uns nur dem momentanen Zustand anpassten. Erziehung zur
Selbständigkeit sei in dieser trostlosen Situation fehl am Platz. Da Du noch
nicht mit uns reden konntest, massierten wir Dir öfters den Rücken, die Füsse
und Beine, um so mit Dir in Kontakt zu kommen.
Die aggressive Phase wollte nicht
aufhören. Das Mittagessen gab ich Dir regelmässig ein, weil das für die
Schwestern zur Belastung wurde. Hie und da erlebten Dich die Kollegen beim
Nachtessen, wie Du schriest oder sämtliches Geschirr auf dem Servierbrett
fortschmeissen wolltest. In solchen Momenten schämte ich mich schon ein wenig
und hoffte, dass dies vorübergehen werde, wie auch das ewige Grübeln in der Nase
und am Penis.
Das erste Wort
Deine Cousine Brigitte war einmal mit ihrer Mutter auf Besuch gekommen, die dann aber nur weinen konnten. Später nach drei Wochen kam Brigitte alleine
und staunte, wie sich Dein Aussehen positiv verändert hatte. Wir genossen
die gemeinsame Besuchsstunde; Du sassest ganz wach im Rollstuhl. Auf einmal
meinte ich Dich ganz dumpf «Mama» sagen zu hören, nur konnte ich es fast
nicht glauben und sagte den Ärzten nichts.
Am anderen Morgen, es war der 1. Dezember, forderte Dich Schwester Nadine
nach dem Duschen auf, ihr «Hoi» zu sagen, weil Du ja einen ganz wachen
Eindruck ausstrahltest. Tatsächlich gabst Du ihr Antwort, und nachdem sie
Dich wieder ins Bett begleitete, wollte sie nochmals den Gruss «Guete Morge»
hören, den Du zu ihrer Freude in heiserer Stimme sagtest.
Am Mittag überstürmten mich die Schwestern mit der guten Nachricht, was ein
Aufatmen in mir löste. Das dumpfe Wort «Mama» von gestern war also doch
gefallen; das zweite, welches ich von Dir hörte war «Hunger!» Ich hatte
erstmals frische Pfannkuchen bei mir, die gerade willkommen waren.
Es war Mittwoch: Andi und Marcel hatten frei und erschienen auch schon um 14
Uhr. Kannst Du Dir die Freude vorstellen, als Du ihnen endlich ihre Namen
sagen konntest, wenn auch langsam und heiser?
Zuhause, im Bekanntenkreis und in der Verwandtschaft und natürlich auf
Deinem Stock hoffte und freute man sich aufs Neue. Dein Wortschatz war
wieder da, wenn auch manchmal in einem Durcheinander und langsamen Tempo.
Du sprachst ganz viel Schriftdeutsch und begannst zu rechnen. Du verhieltest
Dich wie wenn Du in der Schule wärest. Die Rechnungen liessen Dich nicht
frei, immer wieder zähltest Du Zahlen zusammen, dividiertest sie und wehe,
wenn sie nicht aufgingen. Dann schriest Du in voller Lautstärke und
erwartetest von uns Hilfe. Du zähltest auch in 1-er, 2-er, 5-er und 10-er
Reihen auf. Der Putzfrau antwortetest Du auf französisch, den Pflegerinnen
im österreichischen oder hochdeutschen Dialekt. Den Kollegen versuchtest Du
von Deinem Motorrad zu erzählen. Mich fragtest Du zuerst öfters «Was isch
denn passiert?» Auf meine Aufklärung antwortest Du jeweils mit einem «Warum
denn en Töffunfall?»
Zwischendurch weintest Du wieder mehr und mehr. Jetzt ist auch der Winter
eingebrochen und auf Deinem Fensterbrett strahlte das Adventsgesteck von
Baumgartners und unser Weihnachtsstern hoffende Atmosphäre aus. Die
Schwestern wollten, dass Du selbständig essen lernst, was Dir noch Mühe
machte. Sie verlangten nun auch, dass Du bei Bedürfnissen läutest. Immer
wieder versuchten wir diese 'Geschäfte' auf der WC-Schüssel zu erledigen.
Dein Wille war da, aber das 'Können' wollte nie gelingen, was Dich
deprimierte. Denn immer noch passierte das verschmierte Bett, worüber Du
Dich jetzt selber hie und da ärgertest. Beim Durchlüften des Zimmers wurde
es Dir manchmal zu kalt und Du klagtest darüber. Ich meinte einmal, dass Du
Dich wehren und wenigstens dann ein Langarmpyjama anziehen solltest. Ich
schmunzelte über Deine erste Bemerkung: «Chasch denn, wenn´s di nöd
verstönd.»
Natürlich diskutierten wir mit den
Schwestern über dies und das in Deiner Gegenwart und Du zogst jeweils die
Kissen über die Ohren. Die energische Schwester behauptete, Du könntest viel
mehr, wenn Du wolltest; darum würdest Du das Zuhören verweigern! Ich hörte
von anderen Schicksalsgenossen, dass man das Gerede rundum noch nicht
aufnehmen und ertragen könne am Anfang eines Traumas. Ich nahm eine
Strickdecke mit und deckte Dich zu, wenn Du wieder einmal beklagtest: «Es
ist kalt!» Hauptsächlich bei den Spaziergängen zur Ergotherapie legten wir
sie um die Knie, da es bei den Liften oft lange Wartezeiten gab.
Einmal kam Grossmutter und Tante Fina auf Besuch, als wir gerade im
Rollstuhl bereit zur Therapie waren. Beide Frauen erschraken und weinten vor
lauter Erbarmen. Als Grossmutter Dir die Stirn betastete und fragte ob Du
Kopfweh hättest, schriest Du ganz ungeduldig: «uf d´Siete!», was sie noch
mehr erschreckte. Sie konnten sich Deine Schwäche und Müdigkeit nicht
vorstellen; niemand wusste ja, wie schlecht Du Nachts schliefst. Dein Tag-
und Nachtrhythmus war ja noch nicht da. Ich schickte sie dann in die
Spitalkappelle um zu beten, während wir die Pflichten in der Ergotherapie
erfüllten.
Ganz müde zurück im Bett hast Du ihnen dann besser gefallen. Ich tröstete
meine Verwandten stets mit dem Fall von dem Nachbarskind Edith und munterte
sie auf, dass die Zeit heilen werde.
Am 12. Dezember war Dein 19. Geburtstag. Schon am Mittag kamen Freunde von
Dir und wollten Dich erfreuen und etwas festliche Stimmung bringen. Dir war
es gar nicht zum Feiern und Du schriest sie an: «Er spinned alli!»
Herr Braun organisierte mit den Jugendlichen von Kronbühl-Wittenbach ein
Ständchen zu Deinem Geburtstag. Wir wollten mit Dir absichtlich früher
Abendessen, was uns fast nicht gelang. Du schliefst so tief, wie auch
nachher. Du wolltest nicht, dass die Schar im Zimmer feierte und so sangen
sie zur Freude von Personal und anderen Patienten auf dem Stock viele
Advents- und Glaubenslieder. Deine sieben treuen Kollegen sassen um Dein
Bett.
Nach dem Beenden des schönen Singens verabschiedeten sich einige der
Jugendlichen persönlich von Dir. Andere hatten Angst, Dir in diesem fremden
Zustand zu begegnen. Herr Braun wollte mit Dir ins Gespräch kommen, Du
antwortetest mit Zahlen, die Dich zum Rechnen zwangen und Herrn Braun zum
Schmunzeln brachten. Ich dankte ihm und den Jugendlichen für ihre
Bemühungen. Draussen war nämlich wildes Schneegestöber und das Herkommen vom
warmen Zuhause fiel bestimmt nicht allen leicht. Die Kollegen blieben noch
länger und Du antwortetest ihnen auf ihre Fragen nach Deinem Motorrad. Am
späten Abend traf Dich Papa deprimiert und müde an. Ein junger holländischer
Pfleger war abends meist für Dich verantwortlich und umsorgte Dich
pflichtbewusst und verständnisvoll, auch wenn Du das Bett wieder einmal voll
gemacht hattest, erzählte Papa. Er war auch jener, der tagsüber hin und
wieder reinschaute, nur um zu sehen, wie es Dir geht. Wahrscheinlich hat er
so einen Fall noch nie miterlebt, umsomehr traf es ihn, weil er im gleichen
Alter war. Als Herr Bühler, Dein zweiter Chef aus Bischofszell Dich einmal
besuchen kam, zogst Du die Decke über den Kopf. Ich weiss nicht, ob Du Dich
vor ihm geniertest, denn es war geplant, dass Du bei ihm während einem
halben Jahr Motorrad-Mechanik erlernst. Wir unterhielten uns jedenfalls über
die grossen, gefährlichen Motorräder. Beim Verabschieden sagtest Du dann
heiser und langsam: «Danke». Mir tat leid, dass er nun die ganze Prozedur
mit der Versicherung und Lohnauszahlung übernehmen musste.
Die Ärzte planten, mit Dir einiges zu unternehmen. Sie wollten herausfinden,
an welcher Stelle die Nerven zum rechten Arm zerrissen waren. Anschliessend
sollte Dein Gehirn nochmals geröntgt werden, um die Schwellungsrückgänge zu
messen. Nach der Absprache blieb ein dunkelhäutiger junger Neurologe am Bett
ergriffen stehen, schüttelte den Kopf und meinte, so ein schöner, junger
Mann!
Zwei Tage später begann das Experiment. Anita konnte mir die medizinischen
Begriffe erklären. Du bekamst nachmittags eine schwache Dosis Narkosemittel,
weil Du unbedingt ruhig bleiben musstest. Ganz weiss im Gesicht und im
starren Schlaf stiess man Dich im Bett durch die unterirdischen Gänge zum
Operationsraum, wo man Dir farbige Flüssigkeit ins Rückenmark einspritzte
und Dich anschliessend auf den Kopf gestellt röntgte. Mich hiess man im Flur
zu warten. Voller Angst dachte ich mir, wenn der Bub nur wieder erwacht! Du
hättest nämlich nicht schlafen dürfen, sondern nur ruhig sein sollen. Es
machte den Schwestern und Ärzten grosse Mühe, Dich vom Bett auf ihr
vorbereitetes Liegebrett zu schieben.
Draussen beobachtete ich verschiedene Patienten, welche leidend neben ihren
vollen Gläsern sassen, die vor den Röntgenaufnahmen getrunken werden
mussten. Mir fiel auf, dass es viele ausländische Patienten beider
Geschlechts waren und machte mir Gedanken, ob sie wohl von Missständen,
finanziellen Nöten und Heimweh krank wurden.
In den aufliegenden Zeitschriften versuchte ich mich von dem Gedanken, Du
könntest nicht mehr erwachen, zu befreien. Plötzlich hörte ich
ohrenbetäubende Schreie. Das muss Niklaus sein, ahnte ich sofort und schon
bat mich eine Schwester, Dich zu beruhigen. Du warst während dem Röntgen
erwacht, die Flüssigkeit in den Nervenbahnen schmerzte, die Stellung im
Kopfstand verwirrte Dich und das Experiment musste abgebrochen werden. Du
tobtest und schriest trotz meinem wohlwollenden Zureden wild umher. Erst
draussen im Gang überfiel Dich dann wieder die Müdigkeit. Nur einige Male
noch rebelliertest Du mit den Worten «i schüsse alli abe!» Die in der Nähe
anwesenden Patienten schmunzelten mit mir und ich versuchte Dich zu trösten,
dass ja alle Dir nur helfen wollen. Ohne das Röntgen wisse man aber nicht
wie. Wir mussten auf das zweite Vorhaben warten, Du kämpftest mit dem Schlaf
und suchtest wie ein Kind immer wieder den Blickkontakt mit mir.
Um sicher zu gehen, dass Du bei der Gehirntomographie ruhig bist, entschloss
man sich, Dir eine Vollnarkose zu verabreichen. Ein ganz sympathischer
Narkosearzt versuchte es Dir zu erklären, dass nur ein kurzer Nadelstich in
die Venen schmerzen werde. Doch Du fingst wieder an zu toben, man schob Dich
in ein zufällig freies Zimmer, wo ich und ein Pfleger Dich mit Kräften ruhig
halten mussten, damit der Arzt Dir das Narkosemittel am linken Arm einführen
konnte. Nachdem das Experiment in der Tomographie-Röhre geglückt war, wurden
wir spät abgeholt und trafen um 18.30 Uhr wieder gut im Zimmer auf dem 5.
Stock ein. Du solltest nun im Bett eine Stunde sitzen, weil sich die
eingespritzte Flüssigkeit im Gehirn lösen musste. Du hattest aber kaum die
Kraft um zu sitzen. Mit der Angst, die farbige Masse im Gehirn hinterlasse
noch mehr Schaden als schon da war, fuhr ich hungrig und müde nach Hause.
Papa fand Dich dann den ganzen Abend schlafend vor.
Gespannt warteten wir auf das Ergebnis der Röntgenaufnahmen. Nach der
wütenden verfielst Du in eine depressive Phase. Du wünschtest stets, sterben
zu können. Dein Appetit veränderte sich, nur mit Mühe und Bitten nahmst Du
weniges ein. Nur Mandarinen und Orangen zwischendurch schmeckten Dir noch.
Ich versprach Dir, an Weihnachten heimgehen zu dürfen. Du glaubtest aber
nicht daran. Eines Abends, als Papa Dich nach einem Wunsch fragte, nanntest
Du eine Pistole. Papa antwortete im trockenen Witz, er wüsste nicht, wo eine
zu holen wäre.
Einmal begannst Du das 'Gegrüsst seist Du Maria' zu beten und ich half mit als
Du stocktest. Dann brachte ich Dir am nächsten Tag die Kassette mit der
Jodlermesse mit. Das gemeinsame Hören tat auch mir wohl.
Die Spezialärztin vermittelte mir dann eines Tages gute und schlechte
Nachrichten. Von den Röntgenbildern konnte man entnehmen, dass die
Schwellung in der linken Hirnhälfte abgenommen habe und keine Narben und
auch keine Verschwammungen hinterlassen hatte.
Da die Röntgenaufnahme des Oberarms nicht voll geglückt sei, wisse man nur,
dass der Nerv, welcher für die Fingerbeweglichkeit sorge, hinten am
Rückenmark ganz abgerissen sei. Ob die anderen Nerven gerissen oder
gequetscht seien, wisse man nicht. Deshalb unternahm man nochmals einen
anderen Versuch. Mit elektrischen Nadeln suchte ein Spezialist an Deinem
ganzen rechten Arm vergeblich nach Reaktionen. Du sagtest dabei müde: «Was
mached er jetzt, es nötzt jo doch alles nüt!»
Du enttäuschtest die Schwestern mit Deinem Streiken beim Essen. Wollten sie
Dich mit hartem Ton zurechtweisen, fingst Du an zu wüten. Einmal forderte
Dich eine Schwester auf, aufrecht hinzustehen, bevor Du Dich ins Bett legen
durftest. Du zahltest es mit einem Schlag über ihre Haare zurück und
nanntest sie eine 'Blödi'. Dann wurde im Verantwortlichenteam beraten, Dir
Mittel für die Psyche zu verabreichen. Diese machten Dich zwar ruhiger, aber
noch viel müder. Das Laufen war eher ein 'Schlarpen', der Appetit
verschlechterte sich noch mehr. Eines Abends versuchte die mütterliche
Pflegerin Gina Dich im Bett zu füttern. «Heute musst Du nicht aufstehen»,
sagte sie, «dafür musst Du wiedereinmal richtig essen.» Ich sehe heute noch,
wie Du ihr die Freude machtest und den ganzen Spaghetti-Teller einlöffeln
liessest. Dieser Hunger war aber von kurzer Dauer. Du riefst aus: «I glaube
ke bitz, dass i a de Wiehnacht hei cha, i glaubs ke bitz!» Die Abmachung mit
Dir, dass ich nun vormittags nicht mehr komme, fiel mit einem unidealen
Personalwechsel zusammen. Die vertrauten Schwestern fehlten Dir, die neuen
wussten nicht recht, wie sie Dir zu begegnen hatten. Ich entschloss mich,
mit der Oberschwester und der Ärztin eine vorzeitige Entlassung zu
besprechen.
Endlich wieder Zuhause
Nachdem ich merkte, dass sie mir die
Pflege nicht zutrauten, wehrte ich mich, denn ich wusste, dass Frau
Baumgartner mir helfen würde. Zudem hatte ich ja eine Krankenschwester
zuhause, nur war sie momentan mit Prüfungsaufgaben gestresst. Auch Du
äussertest immer öfter den Wunsch, heimgehen zu dürfen, nur wollte es die
Oberschwester persönlich von Dir hören. Sie war immer noch der Meinung, dass
wir Dich zu sehr verwöhnten. Mit ihrer Härte machte sie Dich aber nur
bockiger und depressiver. Sogar die ältere, mütterliche Schwesternhilfe
Gina, welche mir immer Mut und Hoffnung zusprechen konnte, fand jetzt keine
Worte mehr, weil Du stets sterben wolltest. Deshalb willigte der Oberarzt
unserem Vorhaben ein, weil auch er der Meinung war, dass Du unter einem
Spitalkoller leidest. Er riet mir, mich zu schonen und mir von aussen helfen
zu lassen. Ich kaufte noch alle nötigen Pflegeutensilien ein.
Am Vormittag des 18. Dezember holten Papa und ich Dich ab. Schwester Rita
gab mir noch Windeln, Matratzenschoner und Plastikhandschuhe mit. Du
konntest den Abschied vom Spital nicht einmal geniessen, weil Du so müde
warst und schliefst. Papa trug Dich vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl
wieder ins Auto. Auf der Heimfahrt öffnetest Du erst bei der Garage Kaufmann
die Augen. An Deiner Miene merkte ich, dass Du Dich an die Gegend
erinnertest und Dich freutest. Zuhause musste Dich Papa schon wieder
schlafend aus dem Auto heben und in das Haus tragen. In der Stube haben wir
das Sofa zu einem Bett vorbereitet, Dein Zimmer im oberen Stock tauschte nun
Anita mit ihrem in der Wohnung, in das wir ein zweites Bett hinstellten,
um Dich nachts zu begleiten und zu bewachen. Wir stellten auch einen
elektrischen Ofen hinein, um stets warm zu haben. In die Küche stellten wir
den alten, bequemen Polsterstuhl von unserem Schlafzimmer. So konnte die
Heimpflege beginnen und ich liess mir helfen: Frau Baumgartner glättete mir
alle Wäsche, Frau Wehrle durfte ich die Flickete bringen und Frau Dörig bot
mir an, die Wäsche zu tumblern. Da Du ja trotz den Windeln immer wieder
nasse Leintücher machtest, war ich sehr froh darum, weil sie im Estrich
schlecht trockneten.
In der ersten Nacht fragtest Du mich in hochdeutscher Sprache: «Darf ich bei
Dir schlafen?» «Ich komme besser zu Dir», sagte ich und verstand Deinen
Wunsch in Deiner tiefen Traurigkeit. Es kam mir zwar vorerst ungewohnt und
seltsam vor, doch schätzte ich Deine Offenheit. Deine depressive Stimmung
klang nicht so schnell ab. Trotzdem hörten wir auf, die Medikamente zu
nehmen wegen Deinem Klagen über Kopfschmerzen.
Immer noch wolltest Du nichts essen und trinken. Ich telefonierte dem
Naturarzt Sigrist von Teufen und schilderte die Not. Er sagte, es sei
schade, dass ich nicht schon zu Beginn des Falles kam, er habe sehr gute
Tropfen, welche ihm selber schon nach einem Fahrradunfall halfen, wieder zu
Kräften zu kommen. Die per Post angekommene Medizin half tatsächlich,
langsam aber sicher. Wir setzten die Hälfte der Epilepsiemittel, welche Du
von Anfang der Krankengeschichte nehmen musstest ab. Herr Sigrist riet mir
dies, weil jene die Fortschritte im Gehirn hemmten.
Ich wagte seine Ratschläge zu befolgen, weil ich die Anzeichen von
Epilepsieunfällen von Judith her kenne. Wären bei Dir Neigungen dazu
vorhanden gewesen, hätte bei Deinem Toben im Spital längst etwas passieren
müssen. Von Papa bekam ich zwar keine Unterstützung in diesen
Entscheidungen. Jedenfalls versuchte ich alle Tricks indem ich Dir leckere
Nahrung zubereitete. Wir machten uns Sorgen wegen Deinem Gewichtsverlust.
Auch Deine Füsse und Beine waren unterkühlt. Dieses Problem behoben wir mit
einem Heizkissen. Um nicht stets an Deiner Seite stehen zu müssen, stellten
wir Dir eine Glocke neben Dich, mit der Du uns rufen konntest, wenn Du Deine
Bedürfnisse spürtest. Hie und da löstest Du Dein Wasser in die Flasche,
manchmal war es schon zu spät oder es wollte einfach nicht gehen. Du warst
immer noch mit Rechnungen und Zahlen konfrontiert, jedoch nicht mehr allzu
häufig.
Nachdem ich Dich in den ersten Tagen von der Stube in die Küche und ins
Schlafzimmer geführt hatte, machtest Du einmal im Küchenstuhl gelangweilt
die Bemerkung: «Es gibt doch noch andere Zimmer.» «Aha», sagte ich, «willst
Du denn auch ins Kinderzimmer?» Du liessest Dich gerne zum Bett von
Franzjosef führen und verfielst dort wieder in einen Schlaf. Da merkte ich,
dass Du die Welt erweitern wolltest, dass Dich Langeweile drückt. Nur mit
Musik konnten wir Dir die Zeit erleichtern. An Deinem Bett steckte nun das
von Papa angefertigte Holzgitter, damit Du und die neue nordische Decke nie
herausfallen würden. Papa und ich wechselten im Nachtwachen ab. Anfangs
meist so um 3 Uhr, so dass jedes einige Stunden durchschlafen konnte. Du
hattest Deinen Tag-/Nachtrythmus überhaupt noch nicht gefunden, den Du auf
der Intensivstation verloren hast. Jetzt begriffen wir, wieso Du so
aggressiv warst im Spital, wenn man Dich forderte. Du wolltest viel
schlafen, weil Du Nachts fast mehr wach warst. Immer musste man auf Dein
Jammern eingehen. Bei Deinen Selbstmordgedanken erklärte ich Dir stets, dass
ich nicht glaube, dass es Dir auf der anderen Seite des Lebens besser gehe,
wenn Du nicht von Gott geholt wirst. Ich erklärte, dass wir Dir ja helfen
und dass es einmal besser werde. Würdest Du aber den Tod erzwingen, können
wir Dir beim Warten im Jenseits nicht mehr helfen.
Weihnachten rückte näher und ich erklärte Dir, dass es für mich das grösste Geschenk sei, wenn Du ohne Theater Essen und Trinken würdest. Am späten Abend, nachdem ich Dich vom Trainer ins Pyjama wechselte, meldetest Du Hunger an. Ja endlich, «was möchtest Du denn haben», fragten wir, «Pommes frites» war Deine Antwort. So ging ich gerne Pommes frites zubereiten, Hauptsache war, dass Du etwas isst. Der Appetit war zwar doch nicht so gross, aber Papa mochte sie auch gerne. Am anderen Tag versuchten Frau Baumgartner und ich, Dich statt zu duschen, einmal zu baden. Mit vereinten Kräften mussten wir Dich in und aus dem Bad heben, so schwach warst Du. Aber es gefiel Dir und ein langes «Schööön» brach Dein Schweigen. Danach fielst Du wieder müde in einen tiefen Schlaf. Dein Trotzen beim Essen und Trinken liess immer mehr nach und wir freuten uns trotz allem auf Weihnachten. Die Geschenke hatte ich bei den vielen Fahrten zum Spital irgendwie zwischendurch besorgt, Weihnachtspost schob ich halt dieses Jahr auf und Weihnachtsguetzli und Birnenweggen wurden uns von Verwandten und Bekannten in Fülle geschenkt. Deine Wünsche nach der körperlichen Nähe von Mama oder Papa in der Nacht liessen immer mehr nach. Du brauchtest sie nur für kurze Zeit und befahlst jeweils ganz offen: «Jetzt chasch wieder goh.»
Deine Kollegen telefonierten oft und
fragten nach Deinem Wohlergehen, Du wolltest sie aber nicht mehr sehen. Ich
empfahl ihnen, eine Besuchspause über die Festtage einzuschalten. Ich dankte
ihnen für ihre Besorgtheit und sagte, dass ich mich gern melden würde,
sobald Du wieder nach ihnen fragst.
Das Verweilen im Polsterstuhl in der Küche vertrugst Du immer länger, da
leistete Dir auch Bless, unser Hund, Gesellschaft. Dieser legte Dir jeweils
ungefragt den Kopf auf Deine Knie und langsam öffnete sich Dein trauriges
Sinnieren, Du nahmst den Kontakt mit ihm auf, streicheltest ihn hie und da
oder warfst ihm die von mir aufgelegten Hundebiskuits zu. Plötzlich hiess es
dann «i will wieder is Bett.»
Weihnachten 1990
Am Heiligabend schenkten wir Dir ein
grosses Schaffell, das Dir gut tun sollte. Auch ein goldenes Kreuz mit
Ketteli übergab ich Dir, das Dich erinnern soll, dass wir dem am Kreuz
verstorbenen Jesus unser schweres Leid schenken können. Als wir vor dem
Weihnachtsbaum zu singen begannen, riefst Du «Nöd singe», und begannst zu
weinen wie schon lange nicht mehr. Natürlich konnte auch ich nicht anders
und legte mich neben Dich auf das Krankenlager, Anita legte sich auf die
kurze Seite des Couch und ich hielt auch ihre Hand wie Deine und so weinten
wir zu Dritt.
Franzjosef und Judith schenkten sich ihren neuen Spielsachen und vermissten
das Singen nicht. Papa verzog sich still eine Weile ins Schlafzimmer und kam
bedrückt wieder heraus. Ob sich auch bei ihm einmal Tränen lösen konnten?
Beim gemeinsamen Nachtessen in der Küche entrutschte bei Dir dann das erste
Lächeln oder vielmehr ein 'Pfnochsen', was für uns das schönste
Weihnachtsgeschenk war. Papa antwortete Franzjosef mit einem Witz, als er
sich so fest über seinem blauen Morgenrock freute. Dass es so kleine
Morgenröcke gebe, staunte er und Papa meinte, das sei eben noch ein junger
und klein gewachsen. Anita kam mit in die Mitternachtsmesse und fand, dass
ich gut gehandelt habe und dass der Abend trotz allem schön verlaufen sei.
Herr Braun fragte nach Deinem Wohlbefinden und freute sich, dass Du erstmals
gelacht hast. Verwandten und Nachbarn gaben wir bekannt, dass wir keine
Besuche wünschten sondern die Zeit für uns beanspruchen und Niklaus nicht
ermüden wollen.
Du mochtest immer grössere Portionen essen, nur liessest Du Dich ungeniert
füttern. Ich wollte warten, bis Dir dies selbst zu blöde wurde. Deinen
Hunger und Durst in der Nacht benutzte ich zum Aufholen Deines
Nahrungsmangels; Du kamst uns immer dünner vor. Gedörrte Aprikosen und
Apfelschnitze assest Du nachts und trankst dazu gerne kalte Milch. So
besserte sich auch die Blutzirkulation und das Heizkissen unter den Beinen
und Füssen wurde überflüssig. Wir versuchten mit Dir einmal ein Sprudelbad
zu nehmen aber der Lärm störte Dich zu stark. So legten wir Dir den
Ohrenschutz, welchen Du einmal Papa zum Fräsen geschenkt hast, auf. Du
wirktest so wach nach dem Bad, dass Frau Baumgartner und ich diese Prozedur
täglich wiederholten. Du hast nun auch aufgehört, hochdeutsch zu reden und
auch die Rechnungen liessen Dich mehr und mehr in Ruhe. An einem frühen
Morgen riefst Du, «Hilfe, i cha nüme melche.» Ich erklärte, dass das jetzt
auch nicht mehr von Dir verlangt werde. Du fingst an, mehr zu reden,
fragtest auch einmal nach dem Weg in die Alp. Du hast auch versucht
fernzusehen, aber kehrtest Dich immer wieder davon ab. Deine Brille aber
wolltest Du immer noch nicht tragen. Mit dem Wasserlösen ging es besser in
die Flasche, denn auf der Toilette gelang es immer noch nicht. Merkwürdig
schien mir, wie oft man Dich schlafend antraf, die Hosen ausgezogen und der
Stuhl rutschte ohne Dein Dazutun heraus, so dass ich ihn oft auf einem
Papier auffangen konnte. Meine Bekannten staunten stets, dass Du in dieser
Angelegenheit keine Hemmungen hattest. Uns hat es einfach zur Offenheit
gelehrt. Nach dem Mittagessen schliefst Du regelmässig im Schlafzimmer und
Papa ging auch mit, weil er feststellte, dass es dort ruhiger war. Ich
bereitete Dir jetzt oft eine Erdbeer- oder eine andere Creme mit viel Rahm
zum z'Vieri vor, weil dies viel Kalorien besass und es Dir schmeckte.
Zugleich war es ein wertvolles Abgeben mit Dir, denn spielen konntest Du ja
nicht. In den wachen Nachtstunden las ich Dir oft sinnvolle Gedichte oder
Gebete vor aus den vielen Büchlein, die Dir geschenkt worden waren. Eine
sehr schöne Kassette von Trick passte auch so gut zu unserem leidenden
Warten. Du hattest einfach Probleme, im wachen Zustand alleine zu sein, weil
Du nicht wusstest wohin mit Deinen Gedanken. Wir stellten fest, dass Du das
Vergangene immer wieder vergassest. Ratespiele wurden auf einmal
interessant: «Was denkst Du für ein Tier», fragtest Du öfters in der Nacht.
Fragte man Dich, waren es immer der Gepard oder ein Himbeerwurm. Das brachte
uns jeweils zum Lachen.
An einem Festtag spielte ich mit Judith und Franzjosef Tschau-Sepp und
Elfimal am Boden vor Deinen Augen; Du schautest interessiert zu. Ich testete
Dich: die Zahlen kanntest Du, von den Jasskarten jedoch nur s'Zehni. Wir
waren schon zufrieden. Zwei Tage später wolltest Du am späten Abend
Tschau-Sepp spielen statt schlafen. Ich stellte den Stuhl neben Dein Bett,
holte einen Zollstab und die Jasskarten und versuchte es gespannt mit Dir.
Zur grossen Freude spieltest Du tatsächlich richtig mit, nach drei Spielen
warst Du jedoch todmüde, konntest aber nicht schlafen. Dann schlug ich vor,
diesen Fortschritt zu feiern und ging mit Dir in die Küche. Ich briet
Brotwürfeli im Butter und kochte eine Oxtailsuppe, die Dir auch schmeckte,
obwohl es Mitternacht war. Ich zählte wiedereinmal alle Fortschritte auf,
die Du seit dem Unfall am 25. Oktober erlebt hast und machte Dir Hoffnung,
dass das noch jede Woche besser komme. Ich versuchte mit Dir alles Positive
zu sehen und freute mich auf das gemeinsame Spielen. Ich stellte auch noch
Pommes Chips hin und schmunzelte im Stillen, als Du jene selber reichlich zu
Dir nahmst. Danach hast Du wenigstens wieder einige Stunden geschlafen.
Am anderen Tag verlangte ich, dass Du selbständig essen lernst. «Weisst Du»,
sagte ich, «die Pommes Chips letzte Nacht konntest Du ja auch selber zu Dir
nehmen.» Diese Bemerkung nützte, Du konntest es tatsächlich, Dein Wille
wurde reifer. Nur ab und zu merkte ich, dass Dich das Essen mit der linken
Hand ermüdete, so liessest Du Dir manchmal gerne nachhelfen. Uns war es ja
wichtig, dass Du genug Nahrung zu Dir nahmst. Das Tschau-Sepp spielen machte
Dir immer mehr Spass und Du vertrugst es täglich länger: von zehn Minuten
bis zur halben Stunde hast Du diese Leistung gesteigert. Das Lesen gelang
noch nicht recht, aber in den Fernseher schauen konntest Du jetzt auch
wieder eine kurze Weile. Wir besorgten im Spital einen Rollstuhl, um mit Dir
im Freien zu spazieren. Die holprige Strasse machte Dich aber so müde, dass
wir es nicht wiederholten.
Nach Neujahr wünschtest Du die Kollegen wieder zu sehen. Sie kamen gerne, Du
warst bei ihrem ersten Besuch müde im Bett und sie leisteten Dir im Zimmer
am Boden sitzend Gesellschaft. Von den aufgetischten Weihnachtsguetzli und
dem Eiercognac probiertest auch Du ein wenig, was für die Kollegen neu war.
Sie brachten Dir das vergrösserte Foto im Bildrahmen, welches Dich an die
Skiferien mit ihnen in Braunwald erinnern sollte. Auch Herr Vikar Stöckli
kam zur gleichen Zeit zu Dir und freute sich an Deinen Fortschritten.
Die Kollegen kamen danach jedes Wochenende und Du konntest mit Ihnen am
Tisch Tschau-Sepp spielen, wenn auch im Polsterstuhl. Da konntest Du von
Herzen mitlachen, schätztest die aufgetischten Pommes Chips und wolltest
Sirup dazu, während die Freunde Bier oder Coca Cola vorzogen. Pralinés
mochtest Du nicht essen und tauschtest sie gegen Gesalzenes ein. Wir
schlugen Dir vor, die vielen süssen Sachen den Besuchen von Kollegen
anzubieten. Auch Deine Pfadigruppe kam Dich zweimal besuchen. Beim zweiten
Mal hatten auch sie das Vergnügen, mit Dir Karten zu spielen.
In der ersten Januarwoche mussten wir mit Dir erstmals wieder in die
Physiotherapie. Der Weg ins Spital und das Umsteigen in den Rollstuhl machte
Dich jedoch schon so müde, dass Du nachher in der Therapie nicht schön
mitgemacht hast. Vielleicht wurdest Du zu früh aus Deinem Mittagsschlaf
geholt, jedenfalls resigniertest Du bei all den Übungen und äusserste wieder
den Wunsch, lieber zu sterben. Da Du ja am 9. Januar nach Bellikon musstest,
machte ich dem Therapeut klar, dass wir auf die Therapiestunden verzichten
würden. Das Gleichgewicht war ja schon viel besser und wir laufen ja zuhause
auch umher. Auch er zeigte sich erfreut über den verbesserten Zustand und
war der gleichen Meinung. Er fand es gut, dass wir beim Naturarzt Hilfe
holten. Die Schiene an der Hand empfahl er aber weiterhin zu tragen. Auf dem
Heimweg schliefst Du wieder erschöpft im Auto ein.
Am Dreikönigssonntag stellte Onkel Emil bei seinem Besuch fest, dass Du
lesen konntest und anschliessend auch erzählen, was Du gelesen hast. Die
Brille benutztest Du beim Beginn des Spielens wieder. Wir freuten uns alle
sehr und Onkel Emil meinte, dass Du bestimmt im Sommer wieder heuen hilfst.
«Nei, da mach i nöd gern», gabst Du zur Antwort! Er predigte Dir dann, dass
Du doch Deine Genesung schätzen solltest und alles gerne helfen müsstest.
Nun versuchten wir oft, Dich auf dem WC Dein Geschäft machen zu lassen.
Anfangs mussten wir Dir jeweils eine Decke über die Knie legen, weil Du
frorst. Auch konnte man Dich nicht alleine lassen, weil Dein Gleichgewicht
noch immer versagte. Du hieltest oft den Kopf schräg und wir fürchteten,
dies bleibe Dir. Auf unser öfteres Korrigieren wehrtest Du Dich meist, dass
sei so für Dich schief, wenn Du den Kopf nach unseren Wünschen hieltest. Das
Lösen von Stuhl und Wasser auf der Toilette gelang Dir hie und da, meistens
aber nicht. Das Gehen aber ging immer besser und einmal wolltest Du ins
Freie; wir zogen Dir erstmals Jeans und Jacke an und es kam uns seltsam vor.
Im Brunnenhaus machtest Du mit Anita und mir einen Tschau-Sepp und wolltest
danach gleich wieder ins Haus. Das Sitzen auf dem harten Bank schmerzte und
ermüdete Dich. So warst Du wieder ganz schlapp in der Stube in den Couch
gefallen. Das Läuten mit der Glocke klappte wunderbar. Ich erinnere mich an
einen Mittag, als Du Wasserlösen musstest. Es wollte wieder nicht kommen,
obwohl Du gemeint hast es pressiere sehr. Ich holte einen Krug Wasser wie
schon öfters, und liess davon in ein Glas rinnen. Zufällig kam Papa und
Franzjosef dazu: einer nach dem anderen musste schnell aufs WC, nur bei Dir
nützte das Reizen lange nichts. Wenigstens konnten wir wiedereinmal zusammen
lachen.
Der Abreisetag nach Bellikon näherte sich und wir freuten uns, weil uns das
ewige Jassen und Nachtwachen ermüdete. Die Ärztin vom Spital fragte uns
telefonisch nach dem Wohlergehen von Niklaus und meinte nach meinen
Antworten auf ihre Fragen, dass wir das gut machten. Sie war froh, dass wir
die Psychenmedikamente absetzen konnten und hatte auch nichts dagegen, dass
wir uns von einem Naturarzt berieten liessen.
Rehabilitation in Bellikon
Ich zeigte Dir am Vortag Prospekte von Bellikon und bereitete Dich vor. Nach dem Morgenessen zeigte ich sie Dir wieder, weil ich merkte, dass Du wieder alles vergessen hattest. Auf Deine vielen 'Warum' erklärte ich Dir, dass Dir mit intensiven Therapien geholfen werden will. Ich erzählte, wie Edith Lehmann dort Fortschritte gemacht habe. Mit gepackter Reisetasche verreisten wir am Vormittag mit dem neuen Auto mit Diesel, das wir im Dezember gekauft hatten. Schon auf der Autobahn von St.Gallen nach Gossau fragtest Du: «Wohi gömmer denn?» Du vergassest unser Ziel immer wieder, Du wolltest auch bald schon schlafen und wir liessen den Sitz nach hinten. Dein grosses Schaffell diente nun als weiche Unterlage. Im Rollstuhl von Bellikon schoben wir Dich in den Empfangsraum, wo wir erwartet wurden. Viele Fragen mussten beantwortet werden. Die zukünftigen BetreuerInnen wurden vorgestellt. Die Auskunft über unsere eigenständigen Massnahmen von den Medikamenten brachten den Stationsarzt auf bestürzte Ausdrücke. Er traute dem Naturarzt nicht so wie wir, das weiss man ja. Ich erklärte, dass ich ja Erfahrung genug hätte und wisse was Absenzen wären, welche aber bei Niklaus nie vorkamen. Ich erzählte ihm auch von der Not, die mich dazu gezwungen hat und beteuerte, dass die Ärzte in St.Gallen orientiert seien.
Dir wurde von den Schwestern ein Haustrainer angezogen und anschliessend in Dein Zimmer gebracht. Da warteten noch zwei junge Burschen, Sandro und Ernst hiessen sie. Du bekamst das Bett am Fenster mit Aussicht auf das Land.
Papa und ich wurden noch zur Oberärztin gerufen. In einer kurzen Sitzung erklärte sie uns alle voraussichtlichen Massnahmen, die auf Niklaus und uns warteten. Sie wies auf psychische Folgen hin, die auch bei uns Eltern auftreten können und bot uns eine Selbsthilfegruppe an, die sich in Bellikon monatlich einmal trifft. Wir erzählten ihr von unserem behinderten Mädchen und glaubten, aus Erfahrung der Behinderung von Niklaus gewachsen zu sein. Zudem wäre uns der Weg nach Bellikon zu weit.
Die verletzte Psyche von Anita hat bereits eine Ärztin gefunden. So wünschte ich nur, dass Du vor der Armoperation speziell geschont werdest und erzählte von den verschiedenen Phasen, die wir mit Dir erlebten. Ich erwähnte meine Angst, die letzte depressive Phase wiederhole sich, wenn Du zu streng gefordert wirst. Das wäre doch ein unglücklicher Start zur Narkose und zur Operation. Frau Doktor verstand meine Ängste und betonte, dass die vielen verschiedenen Phasen ein gutes Zeichen dafür seien, gesund denken und reagieren zu können. Sie versicherte uns, die Patienten aus grosser Erfahrung richtig zu fördern.
Wir kehrten in Dein Zimmer zurück und verabschiedeten uns von Dir mit Erleichterung. Wir wussten Dich in besorgten Händen von lieben Schwestern und Pflegern. Auf dem Weg durch den Aufenthaltsraum sahen wir viele Patienten, die uns noch mehr leid taten.
Auf dem Heimweg wählten wir ein Mittagessen in einer Autobahnraststätte und trösteten einander mit den noch schlimmeren gesehen Fällen. Zuhause angekommen, überfiel mich dann eine starke Müdigkeit und Traurigkeit: alte gewohnte Bilder von Dir tauchten auf, denen die gegenwärtigen, fragwürdigen entgegenstanden. Drei Tage hielt diese Verfassung an und ich liess den Tränen stets den Lauf. Mein Bauch fühlte sich jetzt erst ganz verspannt an und schmerzte. So verrichtete ich nur die nötigsten Hausarbeiten und entspannte mich beim Teetrinken, Liegen, Schlafen und Weinen.
Dann war es ja schon wieder Freitag und
Papa holte Dich mit Anita aus Bellikon ab. Uns fiel sofort auf, wie
frohgelaunt Du heimkehrtest. Du zeigtest uns, wie Du Deine Jeansjacke selbst
an- und ausziehen und Deine Schuhe schnüren konntest. Wir freuten uns mit
Dir über diese Fortschritte. Doch vor dem Schlafen wünschtest Du wieder zu
sterben. Dann hast Du aber gut ausgeschlafen und die Windeln waren erstmals
trocken. Am Samstagnachmittag kamen Marcel und Andi auf Besuch und Du
hattest viel Spass mit ihnen beim Kartenspiel. Auch Baumgartners verweilten
Dich mit Spielen.
In der Nacht darauf wechselten wir die Windeln um 4 Uhr und machten
Gedächtnistraining. Du wusstest nicht mehr, wer am Samstag auf Besuch war.
Dafür schliefst Du dann wieder bis 9 Uhr. Am Nachmittag spielten wir ausser
mit Jasskarten auch Quartett.
Bei Schneegestöber fuhren Papa und ich Dich wieder nach Bellikon. Du
musstest Sirup mitnehmen, weil Du noch kein Mineralwasser trinken wolltest.
Wir erfuhren vom Pfleger, dass Du beim Zähneputzen und Dich Frischmachen
sitzen durftest, dass man Dir beim Essen hilft, weil man wisse, wie
Trauma-Patienten stets ermüden. Von zuhause erkundigten wir uns einmal nach
Deinem Wohlbefinden. Du wartest gespannt auf die Armoperation im
Kantonsspital St.Gallen und warst voller Hoffnungen wie wir und viele andere
auch. Der Spezialist versprach uns eine 70% Verbesserung. Am Freitag, den
18. Januar fuhr Dich ein Chauffeur mit Pflegerin von Bellikon nach St.Gallen.
Um 10 Uhr trafen wir uns im Spital wie abgemacht; Du wirktest etwas verwirrt
und müde in Deinem Rollstuhl. Die Operationsvorbereitungen währten bis 18
Uhr. Wir benutzten die Zeit zum üblichen Jassen; Du fühltest Dich fremd in
dem grossen 8er-Zimmer.
Die Schwestern hatten hier nicht so viel Zeit für Dich wie in Bellikon. So
durftest Du bis Montag heimkehren, was Du sehr schätztest. Daniela Metzger
und Anita machten mit Dir am Samstag erstmals das Spiel des Wissens und
freuten sich über Dein gewohntes Wissen, nur kamen die Antworten etwas
langsamer. Vikar Stöckli kam auch vorbei und wünschte Dir mit seinem
Gespräch und Segen viel Glück bei der Operation am Montag. Dein Appetit war
sehr gross. Am Sonntag freutest Du Dich über den Besuch von Ralph und
Stefan. Du hast erstmals mit Franzjosef Lego gespielt und Dich auf diese Art
verweilt.
21. Januar 1991, endlich war es soweit:
von 11.30 - 12.30 Uhr operierte Dich Dr. Stober am Arm. Um 14 Uhr bist Du
auf der Intensivstation erwacht. Ich telefonierte um 15 Uhr ins Spital und
bekam die Erlaubnis, Dich um 16 Uhr zu besuchen.
Ich erwartete Dich mit einer Schiene oder einem Gestell am Arm, doch nichts
hat sich verändert. Ich war vorerst zufrieden, dass Du wieder voll bei
Sinnen warst und reden konntest. Ich fürchtete, die Narkose versetze Dir
einen Rückschlag. Dann fragten wir uns zusammen, wie das Operieren wohl
gelungen ist. Ich sah, dass das rechte Bein wohl rasiert worden ist, aber
keine Verletzung hatte. Sie wollten doch einen Nerv aus dem Bein holen, um
ihn in der Schulter einzusetzen.
Dann kam ein Arzt und orientierte uns über den misslungenen
Operationsversuch. Die Nervenbahnen und Muskeln seien alle so verkalkt
gewesen, dass Sie das Vorhaben unmöglich vollziehen konnten. Man habe zwar
zuerst versucht, den Kalk weg zu spachteln, doch zu viele Blutäderchen wären
verletzt worden. Deshalb habe man wieder zugenäht und hoffe auf eine gute
Verheilung der Wunde. Der Kalk sei ihnen ein Rätsel, so etwas hätten sie
noch nie angetroffen. Ich fragte, ob man vielleicht zulange gewartet habe,
was sie jedoch verneinten. Es sei üblich, dass man drei Monate warten dürfe,
ausserdem habe es der Zustand des Patienten nicht früher erlaubt. Ja, das
alles hast Du auch verstanden und fingst an zu weinen. Ich begriff Dich sehr
gut, denn jetzt war auch die letzte Hoffnung dahin. So weinte ich mit Dir
über diese Enttäuschung und Du warst froh darüber. Ich höre heute noch, wie
Du mit heiserer Stimme sagtest: «Du bisch e liebi Mamä, wenn au mitbrüelisch.»
Dann wolltest Du spielen, lagst Du doch schon seit 14 Uhr da und hattest
einen trockenen Mund. Darum schlugst Du vor, ein Tier zu denken und ich
müsse es dann erraten. Anstatt nein oder ja zu sagen, wolltest Du den Daumen
hochhalten oder auf die Seite legen. Das brachte mich wieder zum Lachen und
ich erfüllte Dir den Wunsch.
Erst am Dienstag um 9 Uhr durftest Du auf Zimmer 902 im neunten Stock. Nun
galt es nochmals eine Enttäuschung zu verarbeiten. Zum Glück war Deine
Cousine Elisabeth gerade auf diesem Stock tätig, welche Dich zu trösten
versuchte. Die Folgen der Narkose haben Dich natürlich noch müder werden
lassen.
Einige Patienten im Zimmer gaben auf Deine wiederholt gleichen Fragen
geduldig Antwort. Mit einem Gärtner vom Engesser konntest Du über Deine
Gemeinde reden, mit zwei anderen Patienten über Motorräder.
Am Mittwochnachmittag kam das Lehrerehepaar Bilger und Vikar Stöckli auf
Besuch, um 18 Uhr Thomas und Visko, am Abend noch Herr und Frau Studerus mit
Sepp und Frau Gämperli. Allen tat es leid, dass die Operation nicht gelungen
war. Deine Traurigkeit wurde immer stärker.
Am Donnerstag überkam Dich ein starkes Heimweh, die vielen Besuche von
Deinen Freunden schätztest Du sehr. Thomas und Ralph kamen nach Feierabend,
später auch noch Cousin Martin mit Ruth. Am Freitag war der letzte Pflegetag
von Elisabeth. Herr Baumgartner, Thomas und Stefan erfreuten Dich mit einem
Besuch. Am Samstag überraschte Dich Frau Studerus mit Adrian, Frau und Herr
Baumgartner. Du wolltest nie lange mit den Besuchen diskutieren, stets
forderste Du sie auf, mit Dir Tschau Sepp zu spielen. Natürlich kam auch
Papa jeden Abend. Am Sonntagnachmittag besuchten Dich Dein Cousin Guido
Koller mit Kollege Ruedi. Die Beiden halfen uns im Aufenthaltsraum jassen,
so verweilten wir zwei gemütliche Stunden und Du warst wieder sehr müde.
Dies zeigte sich jeweils in der Sprache, die schleppender wurde, sowie auch
im blassen Aussehen.
Am Montag wurde dann das Pflaster an der rechten Schulter entfernt: die
Wunde war schön verheilt. Dein rechter Arm musste noch im Netz am Körper
befestigt werden. Um 13.30 Uhr wurden wir entlassen und kehrten froh und
doch etwas enttäuscht nach Hause zurück. Wir erhielten auf den 4. Februar
einen Termin, um die Fäden zu entfernen. So durftest Du bis dahin daheim
bleiben, was Du sehr zu schätzen wusstest. Deine gelähmte Hand mitsamt Arm
wurden Dir jetzt noch stärker bewusst und Du warst stets am jammern.
Wir trösteten uns gemeinsam mit der Hoffnung, dass die Nerven in der
Schulter vielleicht nur gequetscht sind; dass die Verkalkung bestimmt nur
von der Flüssigkeit der verquetschten Muskeln und Nerven des Aufpralls
herführen. So spielten wir mit der Hoffnung, dass sich vielleicht die Nerven
mit den Jahren wieder erholen würden, dass es vielleicht gut war, dass nicht
operiert werden konnte.
Am Mittwoch kamen Andi, Marcel und Paddy von 15-18.30 Uhr um mit Dir zu
spielen. Am Donnerstag hast Du einen Brief an Lehrer Bilger geschrieben.
Besuche von Frau Rutz, von Marcel, Thomas, Paddy und Andi verkürzten Dir die
Langeweile. Am Freitagmorgen besuchte Dich Frau Dörig und abends Martin
Krieg. Am Samstag verwöhnten Dich wieder Lukas, Andi, Paddy und Ralph. Auch
Stefan Kaufmann kam zu Dir und half Dir eine Stunde jassen. An Gesprächen
rund um das Motorrad warst Du nicht mehr gross interessiert. Du konntest
Dich nicht mehr an die gemeinsamen Fahrten erinnern.
Nach den vielen gefreuten Besuchen, auch von Deiner ehemaligen Pfadigruppe
konntest Du gut ohne Baldrian schlafen und hattest nie mehr nass. Am Sonntag
kamen Baumgartners jassen. Dann unternahm ich mit Dir den ersten
Spaziergang. Du hieltest Dich an meinem Arm fest und so liefen wir langsam
beinahe bis zum Bänkli und zurück. Das war ein wohltuender Fortschritt und
Du schliefst auch gut danach.
Schon am Montagvormittag halfen Dir Stefan Dörig und Stefan Baumgartner
wieder Tschau Sepp spielen. Nach dem Mittagsschlaf fuhren wir ins Spital um
Deine Fäden auf der Schulter zu entfernen. Beim Warten freute ich mich, wie
Du den Beobachter vom Tisch nahmst und mich auf die kurzen Artikel wie
'Bravo' oder 'Ohalätz' hinwiesest. So unterhielten wir uns erstmals über
etwas anderes als nur über Dich. Du versuchtest alleine zu Dr. Stober zu
laufen. Dein Gleichgewicht war noch wackelig und darum hielt ich Dich noch
hinten am Gürtel fest. Erstmals erlebte ich wie die anderen Leute seltsam
schauten. Nach Beendigung der Arbeit meinte Dr. Stober, da lasse sich
bestimmt in einem Jahr noch etwas konstruieren. So kehrten wir wieder mit
etwas mehr Hoffnung nach Hause.
Am Dienstag fuhr Papa und Anita wieder nach Bellikon, von wo Du am Freitag
wieder gerne heimkehrtest. Du schätztest es, dass Frau Baumgartner Dich
schon wieder mit Jassen verwöhnte.
Tante Cilia kam abends mit Brigitte und Ueli auf Besuch und sie staunten
über Deinen guten Zustand. Weil es Fasnacht war, musstest Du an diesem
Wochenende auf den Besuch Deiner Kollegen verzichten. Dafür half Dir
wiederum das liebe Mitbewohner-Ehepaar Baumgartner. Am Sonntag kam Reinhard
Braun kurz vorbei und traf Dich erstmals im wachen Zustand; auch er staunte
über Dein Wohlergehen. Im Scheegestöber fuhren Papa und ich mit Dir am Abend
wieder nach Bellikon. Mir wurde bewusst, dass Du mit Deinen Zimmerkollegen
nicht viel reden konntest: Sandro schien stumm und verwirrt zu sein, sass im
Bett und starrte in einen kleinen Fernseher vor sich. Beim Begrüssen lachte
er laut. Er und auch Ernst waren gleich alt wie Du und mussten viel
schlimmere Folgen ihrer Verkehrsunfälle ertragen. Ernst hatte zwar ein gutes
Gedächtnis, aber die verletzte Motorik erschwerte ihm das Sprechen und
Gehen.
Am Dienstag vernahmen wir, dass Du sehr unter Heimweh littest und so
installierte man Dir ein Telefon ins Zimmer. Danach freutest Du Dich jeden
Tag auf den Anruf von zuhause um 18 Uhr. Trotzdem plangerteste Du auf den
Freitag, wenn Papa Dich jeweils um 15.45 Uhr abholte. Am Montag darauf
riefst Du uns mitten im Nachmittag vor Langeweile selber an. Ich
telefonierte dann mit Herr Bilger und bat ihn um Aufgaben für Dich. Du
wolltest stets Deinen Geist beschäftigen, denn Du wusstest sonst nicht wohin
mit den Gedanken. Das gegenwärtig Erlebte und Gesprochene vergassest Du
immer wieder.
Die ersten Schritte
Am Sonntag, den 24. Februar konntest Du
erstmals alleine laufen: das war eine freudige Erlösung! Die Woche darauf
erhieltest Du mit Matthias Möckli einen neuen Zimmerkollegen, mit dem Du gut
reden konntest. So brauchtest Du die Telefongespräche mit Mama gar nicht
mehr so sehr.
Am Mittwoch waren Anita und ich zum Pflegetag eingeladen. Schon um 915 Uhr
kamen wir an und lernten Deine Zimmerkollegen, Pflegerinnen und Pfleger
kennen. Es war sehr beeindruckend, wie mit den verschiedenen Therapien
geholfen wurde:
08.00 Uhr: Gruppentherapie mit Gedächtnistraining 09.30 Uhr: Ergotherapie bei Frau Bay 11.30 Uhr: Mittagessen 12.00 - 13.15 Uhr: Mittagsruhe in besonderer Lage (Kissen zwischen den Beinen wegen der Hüfte) 13.30 Uhr: Physiotherapie bei Frau Dutli 14.30 Uhr: Lymphdrainage bei Herr Grundböck 15.15 - 16.00 Uhr: Gespräch mit Frau Dr. Müller.
Danach spielten wir mit Dir und Ernst Tschau Sepp bis 17 Uhr.
So konnten wir über die Wochenenden mit
Dir über Deinen Alltag in Bellikon diskutieren. Du musstest ja auch ein
Tagebuch führen. Das Schreiben mit der linken Hand machte Dir Mühe und so
fielen die Buchstaben zittrig aus.
Am Sonntag, 3. März fuhren wir erstmals auf Besuch zu Deiner Gotte. Die
Woche darauf brachte Überraschungen: Du bekamst Briefe von Kim, Shiwa und
Visko. Mit Freude erzähltest Du mir davon am Telefon, das erst am Mittwoch
um 21.30 Uhr klappte. Am Freitag darauf war die Hauptver-sammlung des
Turnvereins im Hirschen; Du wurdest eingeladen und Paddy brachte dich um 24
Uhr heim.
Natürlich wartete ich gespannt auf Dein Heimkommen, denn Papa und ich
begleiteten Dich nachts stets noch abwechslungsweise. So leertest Du Deinen
'Kropf' von Deinen Eindrücken und weintest wieder einmal. Einige fragten
Dich nach Deinem Arm. Die Invalidität wurde Dir neu bewusst unter den vielen
gesunden Kollegen. Zudem war Dein Ellbogen steif geworden und Du konntest
den Arm nicht mehr gerade hängen lassen. Du fingst zu jammern an: «Ich will
doch nicht mein Leben lang diesen Arm nachschleppen, abschneiden sollte man
ihn, ja wegnehmen, er nützt mich ja doch nichts mehr.» Ich versuchte Dich zu
trösten, dass Dr. Stober uns doch noch etwas Hoffnung machte; ich meinte,
für das Auge sei ein lahmer Arm mit Hand noch lange schöner anzusehen als
ein Stumpen mit eingezogenem Ärmel. So schliefst Du in Tränen ein und
erwachtest am Morgen mit einem moralischen Tief. Am Nachmittag schliefst Du
die Hauptversammlung aus und es ging Dir wieder besser. Thomas, Ralph und
Paddy kamen eine Stunde vorbei und jassten mit Dir.
Am Sonntagmorgen um 10.15 brachten Ri-Ri und Murmel Dir die letzte
Pfadiüberraschung und spielten mit Dir bis zum Mittag. Am Nachmittag kamen
Tante Hildegard und Onkel Jakob mit Familie auf Besuch und staunten und
freuten sich über Deinen guten Zustand, als Du nach dem langen Mittagsschlaf
erschienst. Am Dienstag erreichte ich Frau Dr. Müller telefonisch und bat
sie, etwas zu unternehmen, damit der Ellbogen wieder gebogen werden kann und
dem auffällig höher werdenden Knochen hinten am Rücken Beachtung geschenkt
werde. Ich erzählte ihr von Deiner miesen Stimmung am Freitag und Samstag.
Am Mittwoch telefoniertest Du uns, dass Hansjörg Keller bei Dir auf Besuch
war. Wenn ich Dich nach den verspiesenen Menüs fragte, konntest Du Dich nie
daran erinnern. Ich konnte Dir mitteilen, dass Anita die Abschlussprüfung
gut überstanden habe. Am Freitagabend kamen Kellers auf Besuch und halfen
uns jassen. So wurde ganz klar, wieso Du Dich denn so auf die Wochenenden
zuhause freutest: immer kam jemand auf Besuch und half Dir spielen. An
diesem Samstag hast Du zwei Brieflein an die Pfader gemorst. Das fiel Dir
leichter als das Schreiben. Das frühere Wissen war zum Glück noch da. Nach
dem Mittagsschlaf wolltest Du Deine ehemalige Gruppe Leu beim zukünftigen
Pfadiheim besuchen. Ich fuhr Dich hin, einige Pfader begleiteten Dich nach
Hause und spielten noch mit Dir im Gartenhaus. Nach dem Abendessen gab es
noch einen Jassabend mit Baumgartners.
In der Nacht darauf stellte ich wieder einmal fest, dass Du doch einiges vom
alten Wissen vergessen hast. Von 3 - 5 Uhr hattest Du stets wache Zeit und
wolltest reden. Dann musstest Du mal niessen und ich sagte 'Gesundheit'.
Dann warst Du ganz erstaunt und behauptetest, Gesundheit sagt man doch beim
'Husten'. Ich lachte Dich aus und befahl Dir zu überlegen, was wäre, wenn
ich jetzt ständig husten müsste, niessen könne man mit Nasenputzen wieder
gut abstellen. Du verstandest es im Ernst nicht und ich bedauerte es, hoffte
aber, dass die Erinnerung an diesen gewohnten Brauch später wieder
auftauchen werde.
Am Sonntag waren wir dann bei Grossmutter zum Mittagessen eingeladen, der
'Weihnachtsbesuch' wurde nachgeholt. Dein Schläfchen war auch dort zu
machen, nachher langweiltest Du Dich.
Am Abend kam Anita mit nach Bellikon. Am 20. März rief Frau Dr. Müller wegen
einem Termin mit Dr. Reinfried an. So vereinbarten wir den Freitagnachmittag
zu einem Gespräch mit dem Neuropsychologen, um Dich anschliessend mit nach
Hause zu nehmen.
Dr. Reinfried war ein netter, wirklich friedlicher Mann, der uns schonend
beibringen wollte, dass Niklaus sein Kurzzeitgedächtnis verletzt hat. Er
erzählte uns von den Auswirkungen, von den Therapien, die Niklaus stets mit
Wegkarte und Zeitplan sich merken muss.
Eine Schwester wollte Dir das Jassen abgewöhnen und lernte Dich das
UNO-Kartenspiel. Sie behauptete, die Jasskarten seien von einem
unchristlichen Menschen erfunden worden und sei deshalb ein Teufelspiel. Wir
stellten fest, dass auch das UNO-Spiel süchtig machen konnte.
Wegen den aufbauenden Tropfen vom Naturarzt entstand auch einmal ein
Streitgespräch zwischen mir und dieser Schwester. Sie glaubte ganz sicher,
dass Niklaus im Willen Gottes leiden müsste und wir dieses Leiden nicht mit
Tropfen, die bei Mondschein beschwört wurden, verkürzen dürfen! Ich erklärte
ihr, dass diese Tropfen von Kräutern seien, welche Gott zum Wohl der
Menschen wachsen lasse. Ich als naturverbundene Bäuerin vertraue nun fest
dieser Naturmedizin und fände es schade, dass die allgemeine Medizin nicht
mehr zur Zusammenarbeit und Ergänzung mit der Homöopathie bereit sei. Unser
Naturarzt sandte mir auf mein Verlangen für sie eine Beschreibung über die
Herstellung von homöopathischen Mitteln.
Am Samstag hast Du wieder zwei Dankesbriefe gemorst. Am Nachmittag liefst Du
erstmals mit Papa's Stock zum Pfadiheim, wo die Gruppe Leu Pizza backten.
Visko hatte Dich eingeladen. Er stellte Dir einen Stuhl vor den
selbstgebauten Backofen, weil Du das Umherstehen noch gar nicht ertragen
konntest. In der rechten Hüfte schmerzte es Dich und Du ermüdetest rasch. So
genossen alle dieses Beisammensein. Nach dem Schmaus begleiteten sie Dich
nach Hause und halfen Dir eine Stunde Tschau Sepp spielen. Nachher bist Du
in Deiner Pfadiuniform eingeschlafen. Dafür wolltest Du am späten Abend um
23 Uhr wieder jassen.
Am Sonntag kamen Konrads auf das Mittagessen und halfen spielen bis 18 Uhr.
Du löstest erstmals wieder Kreuzwort-rätsel mit Herrn Konrad (zwei Stück).
Am Dienstag erreichte ich Dich wieder erst um 21.30 Uhr am Telefon (18 Uhr
war unsere vereinbarte Zeit). Du warst noch am Spielen im Gang. Du
erinnertes Dich erstmals an Dein Mittagessen, d.h. an die
Kartoffelstockpyramide, auch die vier Pizza's bei der Pfadi vom Samstag sind
noch in Erinnerung. Während dem Gespräch wurde mir bewusst, dass Du im
Bildgedächtnis suchen musst und es jetzt sofort findest, wenn man Dich
darauf hinweist. So empfanden wir dies wieder als einen Fortschritt.
Dank den Ostern bekamst Du ein verlängertes Wochenende. Papa holte Dich am
Hohen Donnerstag. Am Karfreitag kamst Du erstmals mit in den Gottesdienst um
10 Uhr. Judith und Franzjosef freuten sich. Am Nachmittag kamen Alder's
Buebe und halfen Dir jassen. Am Karsamstag besuchten Dich wieder Deine
Kollegen vollzählig und Du hast erstmals in der Runde mitdiskutiert. Nachher
wurde natürlich gejasst und gelacht.
Das war ein erfreuter Fortschritt. Am Ostersonntag fuhren wir mit der
Familie Baumgartner nach Lehmen und genossen gemeinsam ein feines
Mittagessen. Das war eine kleine Belohnung für die stete Hilfe im Hause.
Natürlich wolltest Du nicht lange auf das Jassen warten.
Am Ostermontag kamen Heers auf Besuch. Auch Hansueli traf ein und das Jassen
mit den drei Herren lief zackig. Du wurdest mit Unterhaltung zu sehr
verwöhnt. So begann halt am 2. April wieder der Ernst des Lebens in
Bellikon. Wir hatten zwar den Eindruck, dass es dort mit einigem Personal in
Pflege und Therapie auch lustig zu und her ging. Am Freitag holten Dich Herr
Stillhart und Patrick ab, weil Papa und ich zur Diplomfeier von Anita im
Kinderspital eingeladen waren. Du gingst wie abgemacht zu Frau Huber die
Haare schneiden. Den Feierabend aber verbrachtest Du bei Baumgartners mit
Jassen.
Traumende
Am Samstag kamst Du ohne weiteres mit zur
Kirche nach Tübach und wolltest noch fast zum Pfarrer den Arm segnen
(heilen?) lassen. Du sagtest am Sonntag erstmals, dass Du kein Traumgefühl
spürest. Bis jetzt glaubtest Du nur zu träumen und wartest auf den Wecker,
der Dich wach rütteln sollte, um arbeiten zu gehen. Das wäre also ein gut
fünf Monate langer Traum gewesen.
Wir besuchten vormittags die OFFA in St.Gallen. Du trafst einen
Pfadi-Kollegen und unterhieltest Dich mit ihm. Mir fiel auf, dass Du beim
Stillstehen Probleme bekamst und darum stets von einem Fuss auf den anderen
wechseltest. Nach dem langen Mittagsschlaf um 15.30 Uhr konntest Du Dich
ohne Hilfe an nichts mehr von der Frühlingsausstellung erinnern.
In der Woche darauf betontest Du jeweils am Telefon, dass Du jetzt kein
Traumgefühl mehr verspürst. Am Donnerstag telefonierte wiederum Frau Dr.
Müller und wollte am 18. April einen Termin vereinbaren, um mit allen
Therapeuten und Ärzten Bilanz zu ziehen und über Deine Zukunft zu reden.
Bei der Heimfahrt am Freitag warst Du eingeschlafen und kamst sehr müde
heim. Am Samstag machten wir trotzdem ein Blustfahrt nach Chur, Frau
Baumgartner kam mit. Mama wollte auf das Raten und Drängen von Tante Cilia
eingehen und der Einladung vom bekannten Missionar und Heiler Müller aus
Deutschland folgen (was man in der Not nicht alles macht!?) Ganz skeptisch
verfolgten wir den Wortgottesdienst mit dem versprochenen Heilungs-Segen.
Die vielen Diener mit den weissen Handschuhen stimmten uns fragwürdig. Von
einem grossen Chor wurden die vielen frohen einfachen Lieder unterstützt.
Die Predigt enttäuschte uns, mir taten die anwesenden Kinder leid. Kurz nach
Schluss wurden Kassetten offeriert, während Müller privat begrüsste und zu
trösten versuchte. Natürlich wünschte er Niklaus, dass Gott die Lähmung von
seinem Arm nehme, aber unser Glaube war zu skeptisch. So gingen wir um eine
Erfahrung reicher nach Hause und schätzten unsere Kirche um so mehr. Deine
Enttäuschung liess Dich aber nicht gut schlafen.
Am Sonntagabend nahm Dich Hansjörg Keller mit nach Bellikon, weil er in der
Nähe arbeitete. Am späten Telefonanruf von Dienstagabend wusstest Du nichts
mehr vom Wochenende, aber Du wusstest das Menü von heute Mittag!!
Am Donnerstag, den 18. April war dann die grosse Sitzung um 10 Uhr in
Bellikon. Es wurden kleine Zukunftsaussichten aufgetischt. Das verletzte
Kurzzeitgedächtnis werde Niklaus hindern, etwas Neues zu lernen. Zudem
kritisierten sie Deinen Charakter ziemlich negativ. Du bist eben kein
Diplomat. Ich als Mutter bekam den Auftrag, aus Niklaus ein selbstständiger
Hausmann zu machen. Im Haushalt sollte er möglichst viel mithelfen. Ich fand
es übertrieben, als man sagte, dass Du es mit der Orientierung auf der
Strasse an fremden Orten schwer haben wirst. Nur schon ein Vogel könne Dich
verirren. Ich meinte, dass Du bestimmt noch soviel Verstand haben wirst und
die Leute nach der Richtung fragen könntest. Mich stutzte es, als ich zur
Antwort bekam, dass die Leute heutzutage immer weniger dazu bereit wären.
Wir durften Dich nach Hause nehmen und Du wolltest den freien Freitag
ausnutzen. Du wolltest ins Geschäft zu Herr Studerus, ich fuhr Dich morgens
hin und holte Dich nach zwei Stunden wieder. Nach dem langen Mittagsschlaf
versuchten wir es nochmals für zwei Stunden. Es verlief super, Du konntest
Ersatzteile auspacken und einräumen; aber Du warst sehr müde. Du bekamst
noch ein grosses Trinkgeld für einen 'Osterhasen'. Am Samstag löstest Du
Aufgaben von Herr Bilger und schriebst Ernst, der in einem Arbeitsheim
landete, einen Brief. Von 14.30 - 18 Uhr war die Kollegenrunde da und Du
warst mit dem verlängerten Wochenende sehr zufrieden. Doch nachts und am
Morgen kam ein moralisches Tief zum Vorschein. Dann trafst Du Lehrer Egli
nach der Kirche und Du freutest Dich über sein Interesse. Nach dem
Mittagsschlaf besuchten wir kurz Dein Götti im Bauel, der über Dein
Wohlbefinden staunte.
In der Woche darauf bekamst Du vor dem Schlafen Baldrian anstatt Tabletten.
Am Dienstag kam ein neuer Kollege, mit dem Du gut diskutieren konntest. Am
Mittwoch kam Post von Dir. Auf der Karte hiess es in zittriger Schrift
«Heute habe ich Schreibschrift gelernt». Das war wieder ein erfreulicher
Fortschritt. Nachdem Du am Freitag wieder müde heimgekommen bist, fuhren wir
am Samstag in die Alp. Es hatte noch viel Schnee aber wir genossen es
trotzdem. Du machtest auch dort einen kurzen Mittagsschlaf. Zufrieden fuhrst
Du am Sonntag mit Papa nach Bellikon und fingst an, die Tage zu zählen. Nur
noch zweimal diese Wochenendfahrten hiess es auch für uns. Die Telefone
klappten nicht mehr so oft, Du warst stets am jassen. Diesen Freitag
konntest Du mit Hansjörg heimfahren.
Am Samstag lud Dich Visko zur Pfadiübung mit der Gruppe Leu in der Steig
ein. Ich fuhr Dich hin, danach liefst Du aber heim. Am Sonntagnachmittag
verwöhnten Dich erstmals Barbara und Monika Koller mit Spielen. An diesem
Abend fuhren wir zum letzten Mal, beinahe genüsslich, mit der gewohnten
volkstümlichen Sendung zu dritt nach Bellikon.
Erstmals sass Mama am Steuer. In der folgenden Woche schriebst Du vielen
Bekannten Karten und teiltest so Deine naheliegende Heimkehr mit. Am
Donnerstag war um 15 Uhr die letzte Therapie und Du hast den ganzen Abend
mit Jasskollegen (Mitpatienten) Abschied gefeiert.
Am Freitag, dem 10. Mai war es nun soweit. Du hast die 19 Wochen
Rehabilitation überstanden. Anita und Mama holten Dich ab. Wir erfuhren,
dass man mit Dir in den letzten drei Ergotherapiestunden
Einhänderschreibmaschinentraining gemacht hat. Du bekamst das Lehrbuch
'Maschinenschreiben für Einhänder'. So freute ich mich, dass wir Dir unsere
Schreibmaschine nicht vergebens mitgegeben haben. Auch eine zweite Schlinge
gaben sie Dir für Deinen Arm, der nun weich gepolstert hochgelagert werden
konnte. Wir erhielten die Anweisung, dass Du am 13. Mai um 11 Uhr im
Bürgerspital St.Gallen erscheinen musst, um Termine für ambulante Physio-
und Ergotherapie zu vereinbaren. Dein Tessiner Zimmerkollege verlangte noch
Deine Adresse. So verliessen wir das Zentrum fast feierlich, während sich
die vielen Angestellten und Patienten den alltäglichen Pflichten und
Aufgaben widmeten.
Auf dem Heimweg genossen wir zusammen in der Autobahn-Raststätte Forrenberg
ein feines Mitttagessen. Mir wurde bewusst, dass Anita ebensoviel Trost und
Schonung brauchte wie Du. Du warst zu sehr zum Mittelpunkt geworden. Zuhause
freuten sich alle über unsere Heimkehr.
Endlich wieder Zuhause
11. Mai: Es war Regenwetter und Du
langweiltest Dich, so dass es wieder einmal Tränen gab. Am Mittag
entdecktest Du 3mm Kraft im Arm. Das gab uns Antrieb, weiterhin zu hoffen.
Am Nachmittag gingst Du mit Papa den Acker ausmessen. Am Muttertag bist Du
nach der Kirche mit den Geschwistern heimgelaufen. Wir legten nachts
weiterhin Umschläge auf die Schulter, welche die verkalkten Nerven lösen
sollten. Am Nachmittag spielten wir Eile mit Weile und natürlich musste auch
gejasst werden.
13. Mai: Ich ging mit Dir in die Physiotherapie: Martin Holenstein, ein
junger sympathischer Therapeut testete Deine Schwächen. Du bekamst Termine
jeweils Montag und Mittwoch 10.15 - 12 Uhr. Zuhause übtest Du das
5-Finger-System auf der Schreibmaschine. Auch das Schachspielen mit Anita
machte Dir wieder Spass. Du hast auch versucht Velo zu fahren; doch das
Gleichgewicht versagte, es gelang Dir nicht gut.
15. Mai: Du wolltest wieder arbeiten. Wir fragten Frau Studerus, ob Du im
Geschäft mit Deinen begrenzten Kräften mithelfen dürfest, um so der vielen
Freizeit Sinn zu geben. Ganz selbstverständlich gaben sie Dir die
Gelegenheit. So fuhr ich Dich hin, nach zwei Stunden warst Du bereits müde.
Am nächsten Tag hattest Du dann schon vor- und nachmittags während je 2½
Stunden Ausdauer. Am Freitag hast Du dann auf dem Büro bereits die ersten
Grenzen gespürt: das heisst Du glaubtest die Anweisungen von Frau Studerus
über die spezielle Schreibmaschine nie erlernen zu können. Du telefoniertest
heim, ich müsse Dich holen. Ganz müde und voller Tränen warst Du
anzutreffen. Ich versuchte Dich zu trösten, dass Deine Kräfte einfach noch
schwach seien und erinnerte Dich daran, dass Du vor nicht allzu langer Zeit
auch zum Gehen zu schwach warst. Das wird auch mit dem Denken noch besser
werden. Ich bat Dich, Dir vorzustellen, wie es wäre, wenn Du zu allem noch
ständige Kopfschmerzen oder andere Leiden ertragen müsstest.
So freutest Du Dich auf's Pfingstwochenende und hofftest, alle hätten wieder
Zeit zum Jassen. Aber gerade all diesen verleidete langsam dieses Jassen.
Mit Ralph hast Du dann den englischen Cup-Final geschaut. Bei einem
Abendspaziergang machtest Du mit dem jüngeren Bruder ein Wettrennen, welches
Du gewannst. Am Pfingstsonntag fuhren wir zum Bodensee und genossen die
südländische Atmosphäre. Du schriebst eine Karte nach Bellikon. In der Woche
darauf gingst Du erneut arbeiten, vor- und nachmittags je 2½ Stunden. Die
tägliche Mittagsruhe mit dem Kissen zwischen den Beinen stärkte Dich wie
immer.
22. Mai: Anita lehrte Dich Postauto fahren und so fuhrst Du am anderen Tag
alleine zu Studerus. Ganz gespannt warteten wir jeweils auf die Heimkehr. Du
warst selber froh über den Fortschritt. Am Freitag hast Du erstmals
Rechnungen geschrieben, folglich sind Dir die speziellen Tastengriffe doch
geraten. Zuhause übtest Du soviel es Dir die Zeit und die Kräfte erlaubten.
An diesem Freitag wurdest Du zu einer Geburtstagsfeier von einem
Turnkollegen eingeladen und ich fuhr Dich zur Sitter. Marco Schaub erwartete
Dich um 19 Uhr. Zwei Stunden später fuhr Dich schon wieder jemand heim; Du
hast Dich gelangweilt, erzähltest Du. Es waren zu viele fremde Leute
anwesend, Du fühltest Dich verloren; dabei hat es Marco doch so gut gemeint.
Der Jassnachmittag am Samstag mit fünf Freunden gefiel Dir dann wieder sehr
gut. Auch der Regensonntag zwang uns wieder zum Jassen. Nachdem Papa in den
Stall ging, unternahmen wir doch noch einen Spaziergang, das war für Dich
Krafttraining.
In der Therapie gab es Schwierigkeiten: ohne Verordnung von einem Arzt
dürfen sie nicht mit Dir arbeiten, d.h. die Versicherung zahle dann nicht.
Wir waren froh, dass uns Anita durch einen bekannten Kinderarzt einen
Neurologen als Fachperson zur Vermittlung empfahl. So warteten wir auf den
vereinbarten Termin und trainierten das Achsel- und Ellbogengelenk. Du
gingst ausser Donnerstag die ganze Woche zur Arbeitstherapie in die Bude,
wie wir es jetzt nannten! Du fuhrst jeweils mit dem 8.11 Uhr Postauto hin
und kamst mit dem 12 Uhr Auto heim. Nach dem Mittagsschlaf gingst Du mit dem
15.11 Uhr Auto wieder weg und nahmst das 18 Uhr Postauto um heimzukehren.
Zweimal hast Du das falsche bestiegen. Du hattest 'Arbon direkt' nicht
bemerkt; so landetest Du halt in Arbon und kamst später heim. Für mich und
Frau Studerus entstand natürlich damit jeweils eine Spannung mit Angst. So
erfuhren wir aber, dass Du Dich schon zu wehren weisst, wenn Du auch die
falsche Richtung eingeschlagen hast.
An diesem Donnerstag, es war der 30. Mai, wolltest Du in Weinfelden einen
Schulbesuch machen. Du hast zuerst Herr Bilger angefragt. Anita begleitete
und testete Dich. Du fandest den Weg noch, von 13 - 17 Uhr nahmt ihr am
Klassenunterricht teil. Es war für Dich ein Aufsteller.
Am Samstag, den 1. Juni schliefst Du erstmals ohne Kissen unter dem rechten
Arm. Du schliefst vorher immer auf dem Rücken und wolltest den lahmen Arm
auf einem Kissen gebettet haben. Nun legtest Du ihn auf den Bauch. Visko lud
Dich wieder zur Pfadiübung ein und Du liefst mit Smoky heim. Dann spieltest
Du mit Nachbarskinder Tschau Sepp! Auch einen Versuch zu joggen unternahmst
Du heute, was aber misslang. Um so mehr freute Dich das Spazieren, das sich
zum Wandern entwickelte. So fuhr uns Papa am Sonntag auf Peter und Paul und
wir wanderten mit Dir nachhause. Das war erstmals eine längere Strecke (55
Minuten) und wir alle freuten uns über diese Leistung. Deine Müdigkeit kam
allerdings zum Vorschein, Du hinktest mit dem rechten Bein. Die Geräusche
von den Motorrädern hörtest Du schon von weitem und wolltest uns jeweils im
Stillstand darauf aufmerksam machen, worüber wir oft lachen mussten. Du
erinnertest Dich aber an keine Deiner Touren von letztem Sommer, auch wenn
wir davon erzählten. Jetzt warst Du dafür viel hellhöriger und hellsehender
für die Natur. Ich hatte manchmal das Gefühl, als ob Du die Vögel, die
Blumen und unsere Haustiere zum ersten Mal wahrnahmst. Auch mit Judith
unterhieltest Du Dich jetzt mehr, ja Du warst zutraulicher, offener
geworden. Das war wohl so, weil Du Dich stets nur mit der Gegenwart
auseinandersetzen konntest. Wir brauchten viel Geduld beim Abhören; bei
Deinem Erzählen oder Fragen durfte ja niemand dreinreden, auch kein Radio
durfte im Hintergrund laufen, sonst verlorst Du Deinen 'Faden'!
Am 3. Juni waren wir um 8 Uhr beim
Neurologen Dr. Rast, der Dich gründlich während 1.5 Stunden untersuchte und
befragte. Der sympathische ruhige Arzt versprach uns, ab nun dafür zu
sorgen, dass die Therapien vollzogen werden können. Von einer erneuten
Armoperation riet er ab: Nerven wiederherzustellen verspreche noch lange
nicht, dass der 'Pfus' dann auch leite.
Am Nachmittag kam Sepp und Marie von Appenzell auf Besuch und Du kamst zum
Jassen. Am Dienstag wolltest Du erstmals einen Znüni-Apfel zur Arbeit
mitnehmen. Du kamst mit dem frühen Mittags-Postauto heim und klagtest über
Kopfweh. Doch am Mittwoch war es wieder weg und Du fuhrst wieder zur Arbeit.
In Bellikon wurde empfohlen Deine Stirn stets vor der Sonne zu schützen, was
Du treu befolgtest mit einem weissen Sonnenhut. Auch der Donnerstag verlief
gut: im Geschäft und mit dem Postauto, was wir alle schätzten.
Am 7. Juni kam wie abgemacht der SUVA-Inspektor um 15 Uhr. Er musste Deinen
momentanen Zustand mustern und fragte Dich über eventuelle Zukunftspläne
aus. Wir forderten ihn auch heraus und erkundigten uns über die finanziellen
Leistungen.
Dir wurde immer klarer, dass nicht der lahme Arm, sondern das verletzte
Kurzzeitgedächtnis das grössere Übel war. Jetzt halfst Du Dir, indem Du das
Portemonnaie in die rechte Hosentasche stecktest. Dann wusstest Du, etwas
muss ich noch ausrichten oder erzählen; hie und da gelang Dir das auch.
Am Samstag half Dir Anita beim Spengler in St.Gallen eine 'neue Garderobe'
für die Jungbürgerfeier zu suchen und sonntags fuhren wir zu Tante Lisebeth
und Onkel Sepp in die Muelt wo natürlich bereitwillig gejasst wurde. Tante
Lisebeth hat den Narren an Dir gefressen, sie bestaunt Dich stets und findet
Dich jetzt viel offenherziger! (wir nannten Dich hie und da kindischer)
10. Juni: Anita zeigt Dir den Weg mit dem Postauto in die Physiotherapie. An
diesem Abend wolltest Du erstmals selbstständig ins Bett, nachdem Du
Tell-Star verfolgt hast. Das war für mich und Papa ein erfeulicher
Fortschritt. Am Dienstag begleite ich Dich zu Frau Netzer in die
Ergotherapie nach St.Gallen. Den Heimweg nahmst Du selbstständig vor, es
klappte zwar nicht mit dem Bus. Doch wusstest Du Dich zu wehren und fuhrst
auf Umwegen zum Hauptbahnhof, so dass Du verspätet in der Dürrenmüli
ankamst. Zu allem hast Du auch noch Deine Jacke vergessen. Am Freitag
verbrachtest Du mit Lukas und Andi den Abend an der Jungbürgerfeier. Schon
um 23 Uhr kamst Du nachhause und erzähltest nur wenig davon. Dann
beteiligtest Du Dich an unseren 'Club-Jassen', das wir auf diesen Abend
geplant hatten, um unter uns zu sein.
Am Samstag konntest Du dann einmal Papa behilflich sein. Du musstest Bretter
streichen, welche ihr am Nachmittag in die Alp transportierten. Am Abend
durftest Du zur Grillparty bei Marcel. Am Sonntag wurde anstatt gejasst Eile
mit Weile gespielt. Montags bekamst Du Physio- und Ergotherapie nacheinander
und ich fuhr mit nach St.Gallen. Am Nachmittag gingst Du wie gewohnt
arbeiten. Am anderen Tag, dem 18. Juni verkürztest Du Deine Mittagsruhe und
verlängertest Deine Arbeitszeit um eine Stunde. Dies wiederholtest Du die
ganze Woche und fandest, es gehe prima. Wir aber spürten Deine Müdigkeit
jeweils: Deine Sprache wurde noch langsamer und undeutlicher. Doch Du
wolltest trotzdem am Feierabend noch jassen: zum Glück kam Anita hie und da
nach Hause und half Dir Schach spielen. Am Freitagmorgen hast Du Dich prompt
verschlafen und wir liessen Dich liegen, denn Deine wachen Phasen während
der Nacht (2.30 - 4 Uhr) dauerten immer noch an.
Am Samstag liefst Du alleine zum Grümpeli-Turnier in Wittenbach und nachher
auch wieder zurück. Du erholtest Dich nachher beim langen Schlaf bis 15 Uhr.
Früh abends holte Dich Andi zum Grill-Abend von Lukas, wo sich alle Kollegen
trafen und vergnügten. Am Sonntag spielten dann Deine Freunde Fussball und
Du wolltest natürlich zusehen. Ja, und am Montagnachmittag streiktest Du
beim Arbeiten. Du holtest vom Estrich mit Anita Prüfungen und freutest Dich
an den vielen 6ern. Es musste wohl sein, denn ganz überraschend besuchte
Dich Dein Cousin Emil Koller mit einer Kawasaki ZXR 750 und half Dir eine
Stunde jassen. Das Motorrad gefiel Dir sehr. Am anderen Morgen freutest Du
Dich wieder auf das Arbeiten. Um 16 Uhr hattest Du Ergotherapie, Anita
begleitete Dich im Bus. Am Mittwoch liess sie Dich alleine zur Physio gehen,
holte Dich dann aber ab. So wurdest Du im Umsteigen geübt.
Du hieltest nun die Arbeitsstunden durch wie die Woche davor. Du konntest
Fahrräder annehmen und ausgeben, Garantiescheine und Rechnungen schreiben,
Lieferungen auspacken und Ersatzteile einräumen. Hie und da durftest Du auch
im Laden Kunden bedienen. Das Einordenen von Waren brachte manchmal
Unordnung. Dein schlechtes Gedächtnis liess Dich im Stich, wenn Herr
Studerus oder Sepp dies oder jenes benötigten und nicht am gewohnten Platz
finden konnten. Du brauchtest auch von ihnen viel, viel Geduld und
Verständnis. Hie und da begehrtest Du sogar auf, wenn Du zum Beispiel
Veloschläuche im Keller holen musstest. Du meintest, das könnte Sepp mit
zwei Händen viel besser und schneller. Auseinandersetzungen dieser Art gab
es oft auch zuhause. Ich hatte ja den Auftrag, Dich im Haushalt mit
einzubeziehen. So forderte ich Dich meist am Wochenende. Staubsaugen oder
abstauben, Besteck abtrocknen, den Tisch abräumen und die Katzen füttern,
das war alles, was Du mit der linken Hand machen konntest. Du halfst aber
nicht freiwillig: «I mach doch nöd all so Seich», riefst Du manchmal aus.
Ich gab Dir jeweils zur Antwort, «was Du machsch, ischt gmacht, egal wie
lang dass hesch, was wötsch denn anders helfe?»
Mit dem Einhänder-Schreibmaschinenlehrheft
kamst Du gut voran, hie und da nur wollte Dir die Geduld nicht genügen. Dann
bat ich Dich jeweils, eine Pause zu machen und später mit frischem Mut
weiterzumachen.
28. Juni: Heute hast Du zum ersten Mal ohne Betreuung geschlafen: es ging
prima. Unser Familienleben fing an, sich zu normalisieren.
Am andern Tag besuchte ich mit Dir das Personal im 5. Stock des
Kantonsspital. Leider waren die bekanntesten Schwestern nicht dort, doch
einige erkannten Dich trotzdem und freuten sich an Deiner Genesung.
Am Sonntag darauf besuchtest Du mit allen Geschwistern den Zirkus Stey in
St.Gallen und am nächsten Tag versuchtest Du wieder selbständig zur Therapie
zu gehen. Anita spielte noch Detektiv, es klappte: nun kann man Dich also
laufen lassen. Am Donnerstag kam Asterix auf Besuch und wir genossen eine
Fleischplatte mit Salaten im Freien. Dass Papa und ich wieder einmal
ausgehen konnten und Dich mit den Kleinen alleine zuhause lassen konnten,
war ein fortschrittliches Erlebnis.
Mit Herr Baumgartner durftest Du am Samstag die Fahrer der Tour de Suisse
beobachten. Das Velorennen hast Du genossen, wenn auch einwenig wehmütig. Am
Sonntag gingen wir alle ausser Papa in den Bodensee baden. Dies war momentan
die einzige Sportart, die Du noch ausführen konntest und wir waren froh
darüber. Dann folgte eine Woche in der alle Kollegen, der Chef und auch
Anita in den Ferien weilten. Es war heisses Wetter und ich war besorgt, dass
Du ja stets 'bedeckten Hauptes' ausgingst.
Am Freitagmorgen bist Du früh und gutgelaunt aufgewacht. Deine Wasserflasche
war leer, das hiess, dass es diese Nacht ohne Wasserlösen ging. Doch in der
nächsten Nacht drängte es Dich noch einmal. Du genossest den freien Samstag
und nahmst mir Johannisbeeren und -blüten ab. Mit Herr und Frau Rutz hast Du
abgemacht, am Sonntag dem Besuchstag im Pfadilager beizuwohnen. Ich weiss
nicht ob es Reisefieber, Freude oder Angst war, die Dich gut schlafen
liessen in der Nacht davor. Um 7.30 Uhr seid ihr losgefahren und um 22 Uhr
wieder heil heimgekommen. Du warst sehr müde und hattest den 'Moralischen'!
Dann hast Du Dich entschlossen eine Woche Ferien zu machen. Anita war wieder
zuhause. So machten wir am Dienstag eine Familien-Bergtour auf die Hochalp.
Du mochtest prima laufen und wir alle genossen es. Am Mittwoch fuhren wir
mit Tante Lisebeth und Onkel Sepp zur Alp, wo wir zu Mittag assen und
anschliessend jassten.
Am Donnerstag wanderten wir ohne Papa zur Seealp. Die nötige Pause auf dem
Hinweg benutzten wir zum Picknick im Schatten einer Tanne. Obwohl der
Seealpsee braun anzutreffen war, weil durch ein Unwetter viel Geröll und
Kies von den Bergen rutschte, genossen wir es. Du schriebst Deinen Freunden
Karten und erzähltest ihnen vom neuen Sport 'Bergwandern'. Franzjosef, Anita
und Judith gefiel das Rudern im Boot, auch wenn sich die Sonne im Wasser
nicht spiegelte. Am Freitag begnügtest Du Dich mit Faulenzen und einige
Rechnungen wolltest Du mit Deiner Schwester üben, spürtest dann mit
'Schmerzen' Grenzen. Am Samstag versuchtest Du aus Langeweile ein Puzzle mit
500 Teilen zu ordnen.
Sonntags fuhren wir dann auf die Schwägalp zur Kirche und grillierten
nachher Würste. Dann trafen wir Maria und Sepp, die Dir und Papa mit Freude
jassen halfen. Am Montag dem 22. Juli nahmst Du die Arbeit wieder auf. Du
suchst jetzt nach einem Berufsziel. Im Geschäft habt ihr jetzt viel Arbeit:
es gab viele Pakete zum Auspacken. Heute versuchtest Du einige Meter mit dem
Auto zu fahren Am Mittwoch hiess es Abschied nehmen von Martin Holenstein,
dem Physiotherapeuten. Nach dem Mittagessen hast Du gestreikt, weil Du im
Geschäft nicht mit allem einverstanden bist. Am Donnerstag musste ich mit
Dir zur Physiotherapie, wo wir ein Heim-Therapie-Programm bekamen und
einübten. Martin konnte uns kein Zeitversprechen abgeben für Deinen
gelähmten Arm. Doch sollten wir während zehn Jahren versuchen, das Ellbogen-
und Achselgelenk fit zu halten. Am Freitagnachmittag kamen Martin und Rösli
Neff auf Besuch und Du wolltest nicht arbeiten gehen. Du nahmst Dir immer
mehr die Freiheit um zu arbeiten oder zu faulenzen. Du konntest ja auch
keinen Lohn erwarten, weil es für dich Therapie war. Auch heute versuchtest
Du mit dem Auto zu fahren. Du erzähltest, dass Du auf der Strasse vor dem
Geschäft einen Fahrlehrer gefragt hast, ob man auch mit einer Hand den
Führerschein machen könne. «Ja natürlich», war die Antwort, vorausgesetzt
sei aber, dass Du selbst ein Spezialauto bringst! Ich meinte, dass Du
vorerst aber noch viele andere Aufgaben zu bewältigen hättest. Abends warst
Du gut gelaunt und sangst beim Wunschkonzert mit.
Am Samstag zimmerte Dir Papa einen Ping-Pong-Tisch. Du hast im Haushalt
schön mitgeholfen. Wir mussten das letzte Pouletfest vorbereiten. In der
Garage feierten wir mit allen Nachbarn und ihren Partnerinnen. Sepp und Hugo
sorgten für Stimmung, auch Franzjosef trommelte aus der Höhe den Takt zu
unseren Liedern. Am Sonntag suchtest Du im Estrich das Netz für den
Ping-Pong-Tisch und stiessest auf alte Erinnerungen. Ab nun warst Du ständig
auf Ausschau nach jemandem, der mit Dir Ping-Pong spielte. Das Arbeiten zu
Wochenbeginn fiel Dir schwer. Auch die Heimtherapie verlief mühsam. Nach der
Ergotherapie nachmittags wolltest Du Ping-Pong, den neuen 'Sport' ausüben.
Die verschiedenen Ferienkarten von Kollegen und Cousin’s freuten Dich.
Am Dienstag, den 30. Juli feierten wir dann Mama's Geburtstag am Bodensee.
Das Wasser war Dir zwar zu kalt und wir genossen mehr die Sonne und das
Strandleben. Am Abend warst Du dann traurig gestimmt.
Am Mittwoch durftest Du nach der Ergo mit der Therapeutin in die Cafeteria.
Nachher brachtest Du Deine Brille zur Reparatur. Als Du nachhause kamst, war
Deine Gotte auf Besuch. Sie brachte Dir Bücher und Kassetten von ihren
Söhnen. Aber Dir gefielen sie nicht, weil es alte Schlager waren und auch
der Lesestoff für zwölfjährige gedacht war. So unterschätzte dich Gotte, wie
auch andere, was Dir hie und da weh tat, manchmal aber amüsierte es Dich!
Am 1. August gab es trotz Regenwetter einen Funken. Die Cremeschnitten
genossen wir im Gartenhaus. Vor dem Anzünden des Holzhaufens halfen Dir
Anita, Ralph und Stefan 'Hoseabe' spielen. Nach dem Feuer gingst Du zu Ralph
fernsehen. Am anderen Tag fühltest Du etwas im Arm und den Fingern, was uns
wieder Hoffnung machte. Du langweiltest Dich wieder einmal. Ich hielt Dich
jeweils zum Helfen an, was ging und dann halfen wir Dir auch jassen. Am
Samstag gingst Du mit Franzjosef zu Fuss einkaufen. Am Abend vermisstest Du
Deine Kollegen, sie waren am Fussballmatch. Am Sonntagmorgen gingen wir in
die Kirche und nach dem Mittagsschlaf spielten wir wieder einmal Eile mit
Weile. Später kam Paul Konrad auf Besuch und so gab es doch noch einige
Kartenspiele, während Papa im Stall war.
Montag 5. August: Du begannst mit Langeweile eine Ferienwoche und so holten
wir Finä im Bürgerheim ab. Die Heimtherapie verlief stets mühsam, d.h. es
waren wirklich strenge Übungen, die Dich ermüdeten. Schon am Dienstag
genossest Du dann das Faulenzen und begannst ein Winnetou-Buch zu lesen.
Am Mittwoch gingst Du zu Huber's Ping-Pong spielen, abends jassten wir und
Du hast mit Anita verloren. Ich glaube aber nicht, dass Du deswegen traurig
warst vor dem Einschlafen. Am nächsten Tag gingen Papa und Mama an einen
Ausflug. Du hast Franzjosef im Stall geholfen, was Du konntest und spieltest
auch mit Anita, Finä und Judith.
In der Nacht auf Freitag musstest Du dreimal Wasser lösen. Im Lauf des Tages
entdecktest Du 'Mäuse' im Arm. Ich bat Dich, so viel wie möglich den Arm und
die Finger zu bewegen. Am Abend hast Du mit Ralph gewürfelt.
Am Samstag durftest Du mit Baumgartners vom Lehmen zum Böhl und
zurückwandern.
Am Sonntag 11. August kamen Frau Steiner mit Regina und Familie auf Besuch
und Du hast beim Kochen mitgeholfen. Regina half Dir lange Ping-Pong
spielen.
In der Nacht darauf wolltest Du schon zum zweiten Mal jassen, weil Du wegen
dem Wasserlösen erwachtest und nicht mehr einschlafen konntest.
Das Arbeiten im Geschäft gefällt Dir wieder. Trotzdem warst Du wieder lange
wach nachts und musstest am Nachmittag eine Stunde schlafen. Nach einem
Wortstreit gab es Tränen.
Am Mittwoch hast Du den Bus in die Ergotherapie verwechselt. Du hattest
danach keine Lust mehr, arbeiten zu gehen. Dafür paniertest Du die Plätzli
für das Mittagessen. Beim abendlichen Einreiben spürtest Du einige Finger in
der rechten Hand.
15. August: Wir luden Familie Studerus zum Abendessen ein. Du und Adrian
spielten lange Ping-Pong, während wir Deine Probleme diskutierten. In der
Nacht hast Du gut geschlafen und am nächsten Tag nette Kunden im Geschäft
erlebt. Am Samstag hast Du Dich mit viel Vorfreude auf den Abend
vorbereitet. Die Kollegen kamen zum Grillieren, Bier und festen. Bis 2 Uhr
dauerte das Fest im Gartenhaus und Du hast erstmals wieder in 'Bass'
mitgesungen!
In der Nacht darauf weckte Dich kein Bislen und Du schliefst bis 9 Uhr. Nach
dem nötigen Mittagsschlaf fuhren wir zum Götti im Bauel und marschierten
über Dottenwil-Gommenschwil nach Hause.
Am Montag lerntest Du Frau Netzer in der Ergotherapie jassen. In der Nacht
musstest Du wieder zweimal Wasserlassen.
Im Geschäft gab es diese Woche nicht viel Arbeit. In der Freizeit begannst
Du ein Winnetoubuch zu lesen und spieltest mit Anita hie und da Schach.
Mittwoch 21. August: Man schickte Dich nach der Ergotherapie in den
Dreischiebe-Betrieb zur Besichtigung. Du fandest dort keinen Gefallen, die
Leute passten Dir nicht!
Donnerstag 22. August: Herr Arnold, der Berufsberater der IV kam vorbei und
befragte uns nach Deinen Zukunftsplänen. Wir vereinbarten einen Termin für
einen Fähigkeitstest.
Freitag 23. August: Ungern gingst Du zur Arbeit. Du schliefst wieder
schlechter und somit wurden Deine Gemütsstimmungen auch wieder betrübter.
Samstag 24. August: Thomas Hug holte Dich um 14 Uhr ab und Du verbrachtest
den freien Samstagnachmittag bei ihm. Zusammen mit den anderen Kollegen
konntest Du den Fussballmatch miterleben. Von 22 - 02 Uhr jassten Thomas und
Paddy mit Dir. Danach konntest Du ohne Bislen bis 9.30 Uhr schlafen. Nach
dem zweistündigen Mittagsschlaf unternahmen wir einen Sonntagsspaziergang
übers Tobel. Du konntest uns verraten, was wir zu Mittag gegessen hatten.
Montag 26. August: Morgens um 8 Uhr waren wir bei Dr. Rast angemolden. Seine
Untersuchung ergab keine grosse Veränderung im Arm, was wir mit Fassung
entgegennahmen. Am Nachmittag warst Du mit Frau Netzer nach der Ergotherapie
im Cafe des Bürgerspitals.
Dienstag 27. August: Das Heimtrainings-Programm verläuft oft mit Krach.
Mittwoch 28. August: Erstmals Physiotherapie bei Roman Neuber in Kronbühl.
Donnerstag 29. August: Im Geschäft gab's zuwenig Arbeit; darum machtest Du
am Nachmittag frei. Freitag 30. August: In der Physiotherapie weist Michel
auf die stark begrenzte Bewegung im Arm hin.
Samstag 31. August: Du musstest einen Samstag mit viel Langeweile erdulden;
Mama half Dir eine halbe Stunde Ping-Pong spielen und abends halfen wir Dir
jassen. Beim Einmassieren spürst Du nun ein feines Rieseln im Arm.
Sonntag 1. September: Um 10 Uhr war das Pfadi-Grümpeli und Du genossest das
Zusammensein mit bekannten Pfadern. Mit dem 16 Uhr Zug fuhrst Du heim und
gingst schlafen. Um 17.30 Uhr folgtest Du der Einladung von Herr Braun, an
seinem Abschiedfest in St.Konrad teilzunehmen. Nach gelangweilter Zeit
kehrtest Du aber schon um 20 Uhr heim.
Montag 2. September: Mit der Ergotherapie wird Pause gemacht, dafür darfst
Du vermehrt zu Michel in die Physiotherapie.
Dienstag 3. September: Mama verbrachte mit Dir einen schönen freien Tag: wir
wanderten vom Kronberg nach Lehmen, während Papa in der Alp arbeitete.
Mittwoch 4. September: Du warst müde von der Physiotherapie heimgelaufen.
Abends sahen wir einen Film über verunglückte Menschen; die vielen Lähmungen
erregten unsere Gefühle!
Donnerstag 5. September: Du hast Einladungen für die Freunde kopiert, am
Abend warst Du wieder einmal allein.
Freitag 6. September: Der Berufsberater Herr Arnold von der IV testete Dich
und empfahl Dir eine kaufmännische Lehre in Zürich oder Romanshorn. Heute
hörte ich Dich bei einem Telefongespräch erstmals diskutieren mit Witz und
Spass wie früher.
Samstag 7. September: Samstags-Langeweile: vormittags liefst Du zum
Pfadiheim und nachmittags versuchtest Du zweimal zu schlafen. Du freutest
Dich aufs St.Galler-Fescht mit den Kollegen. Um 02.45 Uhr kamst Du heim und
konntest viel erzählen. Die Kollegen hast Du verloren, nachdem Du das
Restaurant nach einem WC-Besuch nicht mehr fandest!
Sonntag 8. September: Trotzdem warst Du morgens guter Laune. Am Nachmittag
machten wir einen Besuch in Gonten.
Montag 9. September: Um 8 Uhr Physiotherapie bei Michael Kandel, Du magst
ihn, weil Du mit ihm spassen kannst. Du gingst erst am Nachmittag zur
Arbeit.
Dienstag 10. September: Heute war ein wichtiger Tag. Wir konnten einen
Termin am 25. September mit dem Brüggli in Romanshorn vereinbaren, um dort
eventuell eine Bürolehre zu machen. Dank dem freien Tag konntest Du mit Papa
in die Alp und dort mit dem zufällig auf Besuch weilenden Karl Bärweger
jassen. Am Feierabend pflücktest Du mir die Brombeeeren ab und halfst auch
Bohnen spitzeln.
Mittwoch 11. September: Diese Nacht musstest Du nur einmal bislen. Im
Geschäft hattest Du viel Arbeit und am Abend schautest Du den Match Schweiz
gegen Schottland aus Bern an.
Donnerstag 12. September: Du gingst um 8 Uhr zur Physiotherapie und hast es
unterlassen, Dich zu rasieren. Den restlichen Vormittag verbrachtest Du mit
Kreuzwort-rätseln lösen. Am Nachmittag freutest Du Dich wieder auf die
Arbeit in der Bude. Abends diktiertest Du Deinem jüngeren Bruder wie schon
öfters ein Diktat für die Schule.
Freitag 13. September: Nach dem guten Ratschlag von einem Pater umwickelte
ich Dir erstmals das Genick und den rechten Arm mit gequetschten
Kabisblättern. Du hast damit ohne Probleme geschlafen.
Samstag 14. September: Du versuchtest heute das Auto zu putzen und halfst
Papa im Schopf! In der rechten Hand verspürtest Du hie und da Schmerzen.
Sonntag 15. September: Heute sind wir von Tante Hildegard und Onkel Jakob
eingeladen worden zu einem feinen Mittagessen im Böhl: Steaks und
verschiedene Salate mundeten allen, vor allem Dir und auch der
Jassnachmittag freute Dich.
Montag 16. September: Du konntest Michel Sassano einen Velohelm verkaufen.
Abends warst Du bei der Geburtstagsfeier von Ralf Krayss.
Dienstag 17. September: Du hast die Geburtstagsparty ausgeschlafen und warst
erstaunt über den guten und langen Schlaf. Nachmittags gingst Du zur Arbeit
und nahmst am Feierabend noch die Brombeeren ab und halfst wieder Bohnen
spitzeln. Danach gab es noch einen Jass mit Papa und Anita.
Mittwoch 18. September: Die Arbeit im Geschäft wird knapp. Du kamst mit an
das Familienessen mit anschliessenden Spielen in der HP-Schule von Judith.
Du langweiltest Dich und stiessest an Grenzen. Deshalb gab es um 22 Uhr
wiedereinmal Tränen!
Donnerstag 19. September: Das schlechte Gedächtnis belastet Dich sehr und
machte Dich heute besonders traurig. Zum Glück hatte es heute ordentlich
Arbeit im Geschäft. Am Abend nahmen wir Zeit zu Spiel und Jass.
Freitag 20. September: Um 14.30 Uhr hattest Du einen Termin beim Naturarzt
Siegrist. Er gab uns neue Tropfen mit viel Versprechungen und empfiehl, auch
morgens viel Haferflocken mit Quark und Früchten zu essen. Dies sollte das
Gedächtnis stärken.
Samstag 21. September: Heute fuhren wir mit dem 06.30 Uhr Zug ab Wittenbach
zum Flüeli-Ranft. Um 11 Uhr erlebten wir einen schönen Gottesdienst mit
Aussicht von der Empore in der Kirche Sachslen. Die Sammlung der Laternen
aus vielen Gegenden der Schweiz lösten ein eindrucksvolles Erlebnis mit
vielen Unbekannten und doch im Glauben zusammengehörenden Menschen aus. Im
Flüeli nahmen wir zwei unser Picknick zu uns und beteten und dankten
nochmals. Auf der Heimfahrt lernten wir noch zwei ehemalige
Wittenbacherinnen kennen und konnten interessant diskutieren.
Sonntag 22. September: Wir fuhren auf die Schwägalp zur Kirche und wanderten
auf Irrwegen zur Alp von Metzgers.
Montag 23. September: Heute konntest Du erstmals wieder zur Ergotherapie.
Dienstag 24. September: Nach der Physiotherapie bist Du arbeiten gegangen:
Du brauchst immer noch eine Stunde Mittagsschlaf und freust Dich auf Morgen.
Mittwoch 25. September: Diese Nacht musstest Du erst um 6.05 Uhr biseln.
Papa und ich fuhren mit Dir nach Romanshorn zum Dienstleistungsbetrieb
Brüggli. Herr Conza zeigte und erklärte uns auf sympathische Art den
modernen Betrieb, in dem Du ab 1. Januar 1992 ein Praktikum bis zum
Lehrbeginn im Herbst absolvieren könntest. Wir drei waren positiv
beeindruckt von der wohnlichen Atmosphäre.
Donnerstag 26. September: Du nahmst Prospekte vom Brüggli mit ins Geschäft.
Freitag 27. September: Du freutest Dich auf die neue Chance. Die Arbeit im
Geschäft fällt Dir immer leichter. Heute musstest Du viele Pakete auspacken
und verordnen.
Samstag 28. September: Du halfst Papa beim Bau eines neuen Kaninchenstall.
Wir übernachteten in der Alp mit den Kleinen. Am Sonntag kam dann Papa mit
Herr und Frau Bär zum Brunch. Die Wanderung und das Jassen war gemütlich mit
ihnen. Du warst abends sehr müde.
Montag 30. September: Nachmittags gingst Du nicht arbeiten. Dafür hast Du
ein Gedicht mit 33 Strophen für Grossmutter geschrieben. Am Abend wurdest Du
von Sepp Metzger überraschend abgeholt. Du hattest die Abmachung vergessen.
Ihr wurdet von Frau Studerus zum Abschiedessen eingeladen. Feines Fondue
Chinoise wurde aufgetischt und um 0.30 Uhr kamst Du heim.
Dienstag 1. Oktober: Trotzdem bist Du um 07.30 Uhr aufgestanden und um 09.10
Uhr zur Arbeit gefahren. Am Nachmittag sorgte Physio- und Ergotherapie für
Abwechslung und ein Brief von Daniela Rölli hat Dich gefreut.
Mittwoch 2. Oktober: Du hast nicht gut geschlafen, musstest zweimal bislen
und gingst um 08.40 Uhr arbeiten. Nach dem Feierabend begabst Dich zu Rosi
Huber zum Coiffeur und Papa half Dir danach jassen.
Donnerstag 3. Oktober: Die Physiotherapie mit Michel Kandel bedeutet für
Dich einen sehr angenehmen Zeitvertreib.
Freitag 4. Oktober: Im Geschäft gab es heute wenig Arbeit. Abends sahst Du
fern, während Mama bügelte und Papa zur Feuerwehrübung ging.
Samstag 5. + Sonntag 6. Oktober: Heute kamst Du mit gutem Willen schon am
Vormittag mit zum Obst auflesen. Der rechte Arm war dabei ein lästiges
Hindernis. Du freutest Dich auf den Match mit den Kollegen.
Nach dem Match wurdet ihr von Thomas eingeladen und ihr vergnügtet euch bei
ihm bis um Mitternacht. Mit Imelda und Walter Muheim konntest Du heimfahren;
sie waren auch bei Hug's. Am Sonntag warst Du sehr müde. Anita und Daniela
kamen auf Besuch. Am Abend kamst Du mit der Familie mit zur Kirche nach
Tübach.
Montag 7. Oktober: Nach Arbeit und Physiotherapie konntest Du heute dem
Schlachten eines Kalbes zuschauen.
Dienstag 8. Oktober: Heute Nachmittag hattest Du keine Lust zum Arbeiten. Du
gingst mit Judith in die Migros Zutaten für die Pizza einkaufen, welche Du
morgen in der Ergotherapie benötigst.
Mittwoch 9. Oktober: Beim Pizza zubereiten lerntest Du Hilfsmittel zum
Kochen kennen. Dein Nachmittagsschlaf kam zu kurz, und so bist Du um 17.30
Uhr eingeschlafen. Nachher gab's ein langes Abendessen und einen
Plauderabend mit Metzger Gust Wick.
Donnerstag 10. Oktober: Du hast heute nach der Physiotherapie lange
geschlafen, bist am Nachmittag arbeiten gegangen und hast für Papa's
Geburtstag Süssigkeiten heimgebracht.
Freitag 11. Oktober: Walter Keller hat bei uns gemolken und wir assen mit
ihm am Abend Raclette. Du erzähltest ihm, dass im Geschäft viel zuwenig
Arbeit vorhanden sei. Von Harald, einem Schnupperstift hast Du ein Karl May
Buch heimgenommen.
Samstag 12. Oktober: Du hast auf mein Betteln wieder einmal das Sprudelbad
benutzt. Du gingst einkaufen und halfst eine Weile obsten.
Sonntag 13. Oktober: Wir alle erlebten ein Superfest in Lehmen.
Grossmutter's 80. Geburtstag wurde mit viel Spiel, Gesang und Musik
gefeiert. Danach hast Du 1.5 Stunden geschlafen. Dafür warst Du nachts lange
wach und gingst wieder öfters biseln.
Montag 14. Oktober: Morgens konntest Du dann lange schlafen. Am Nachmittag
gingst Du zum Jahrmarkt und abends jassten wir mit Dir.
Dienstag 15. Oktober: Du warst wieder unzufrieden und konntest deshalb nicht
schlafen. Mama hat mit Dir gejasst und in der Bibel studiert: im alten
Testament fanden wir etwas Interessantes. Im Geschäft gab's keine Arbeit und
um 11.30 Uhr musstest Du in die Physiotherapie. Am Abend kam Thomas auf
Besuch und wir jassten dreimal auf 5’000.
Mittwoch 16. Oktober: Nachts hast Du uns Eltern geweckt wegen einer Kuh, die
muhte, weil sie ihr Kalb bekam. Zum Nachtessen waren Tante Hildegard und
Onkel Jakob mit Thomas eingeladen. Du freutest Dich am Essen und am Jassen.
Donnerstag 17. Oktober: Heute schriebst Du einen Brief an Herr Lehrer
Wettstein und liessest die ganze Klasse grüssen.
Freitag 18. Oktober: Du gingst mit Papa an die OLMA und schliefst danach
eineinhalb Stunden. Du hast auch Dein Tagebuch nachgeschrieben.
Samstag 19. Oktober: Du halfst ein wenig obsten, dann schliefst Du lange vor
und freutest Dich auf das Geburtstagsfest zum 20sten von Andi Rutz. Um 00.30
Uhr kehrtest Du mit guter Laune heim.
Sonntag 20. Oktober: Morgens hast Du bis 08.30 Uhr geschlafen. Am Vormittag
telefonierte Dir Stefan Kaufmann und wollte mit Dir zur OLMA. Du hast
abgesagt
Montag 21. Oktober: Herr Kühne von der IV kam ins Geschäft um Deine
Arbeitsleistung zu beurteilen. Du kamst schon um 11 Uhr nach Hause, weil
Mama obstete.
Dienstag 22. Oktober: Heute hattest Du kein Spass am Obsten, es hatte zuviel
Gras und deswegen liefst Du davon. Dafür erlebtest Du eine unterhaltsame
Physiotherapie bei Michel um 11.30 Uhr.
Mittwoch 23. Oktober: Du hattest wieder einen freien Tag. Im Haushalt halfst
Du mit. Dank dem Superbrett mit Nägeln von der Ergotherapie konntest Du
heute die ersten Kartoffeln schälen.
Samstag 26. Oktober: Nun freust Du Dich auf das Alp-Weekend mit sieben
Kollegen. Dieses Jahr wird es klappen. Um 15.30 Uhr werdet Ihr starten! Die
Verantwortung über Kochen und Ordnung wird nun Ralph Baumgartner übernehmen.
Sonntag 27. Oktober: Ihr seid um 16 Uhr heimgekommen. Du konntest
aufgestellt von dem Erlebnis erzählen. Ihr habt auch ins Hüttenbuch
gedichtet, wie lustig es zu und her ging.
Ab nun gab es immer weniger Arbeit im Geschäft. So konntest Du Dich zuhause
viel mit der Schreibmaschine beschäftigen. Diese Geschichte verhalf Dir zu
interessantem Stoff. Natürlich streikte hie und da Deine Konzentration und
es passierten Dir Fehler. Du hattest ja viel Zeit zum Korrigieren. Auf dem
Weg zur Therapie und Arbeit trafst Du hie und da Bekannte im Postauto. Dann
stecktest Du jeweils Dein Portemonnaie in die rechte Hosentasche; somit
wusstest Du zuhause, dass Du mir etwas erzählen wolltest, was Dir nach
festem Nachdenken meistens gelang. Zwischendurch langweiltest Du Dich stets.
Moralische Tiefs liessen Dich abwechslungsweise nicht schlafen. Dann gab es
aber auch freudige Hochs und Überraschungen.
Anfangs November trafst Du Walter Baumann vor unserem Haus in einem
Kükenlieferantenwagen. Er war mit Dir als Patient in Bellikon auf dem
gleichen Stock und hat mit Dir öfters gejasst. Sein Cousin brachte uns
erstmals Küken zum Aufziehen und liess Walter zum Zeitvertreib mitfahren.
Der Familienvater hat durch eine Bluterkrankung ein Bein amputieren müssen
und spielt jetzt oft mit grossen Schmerzen Hausmann, damit seine Frau
arbeiten gehen kann.
Du tröstetest Dich, dass Du wenigstens ohne Schmerzen gehen und wandern
kannst; Walter tröstet sich, dass er keine Hirnverletzung erleiden muss.
Du schriebst täglich in Dein Tagebuch und so wurde die Schrift immer
schöner. Mit der Heimtherapie warst Du weniger zuverlässig, ich musste oft
mit harten Worten nachhelfen. Hingegen überraschte es uns alle, dass Du mein
Protokoll für den Sekundarschulrat wieder schreiben und Deutschfehler
korrigieren konntest. Von dem hätte ich vor einem Jahr nicht zu träumen
gewagt. Nun entwarfst Du auch eine handgeschriebene Geburtstagseinladung für
Deine Kollegen. Du warst stolz auf Dein gelungenes Blatt, welches Du mit
Foto auf der Post kopiertest.
Am meisten freutest Du Dich immer auf das Wochenende mit den Kollegen.
Diesen Winter/Frühling gab es nebst dem Turnen und anschliessendem Ausgang
noch andere Feste. Alle Freunde feierten wie Du den 20. Geburtstag.
Am 23. November luden Lukas und Thomas als Erste ins Erlenholz ein, wo sie
gemeinsam lustige Unterhaltung und feines Essen organisierten.
Mit Firma Studerus durftest Du ans Weihnachtsessen, was Du als
'Feinschmecker' sehr schätztest. Solche verlängerte Abende und Nächte
machten Dich stets sehr müde. Ich konnte mir so gar nicht vorstellen, dass
Du ab 1. Januar 1992 den ganzen Tag arbeiten gehen kannst, ohne einen
Mittagsschlaf machen zu können. Und doch hofften wir sehr, dass sich dann
einiges verbessern würde. Wir hofften auf sinnvolle Arbeit in einem
friedlichen Team, die Deine Langeweile, Unzufriedenheit und moralischen
Tiefs zum Verschwinden bringen.
Zu Deinem 20. Geburtstag am 12. Dezember erschienen alle geladenen Gäste und
fühlten sich wohl in der vertraut gewordenen Stube. Natürlich wärst Du
überfordert gewesen, die Gäste alleine zu bedienen, denn es kam Dir nicht in
den Sinn, Getränke und Essen nach zu tischen. Du warst von den Gesprächen
und anschliessenden Spielen genug beansprucht worden. So blieb ich zwar
ungern in der Nähe und musste feststellen, dass sich Deine Kollegen zu
jungen Männern entwickelt haben. Dein Rückstand wurde mir im Vergleich mit
ihnen schmerzend bewusst. Ich glaubte, mich an die gegenwärtige Situation
gewöhnt und alte Bilder vergessen zu haben. Dein 20. Geburtstag aber
rüttelte nochmals an dem Schicksalsschlag: Deine Kollegen wurden entweder
mit der Lehre fertig oder machten die Matura und hatten die Absolvierung der
Rekrutenschule vor. Wir mussten uns zufrieden damit abfinden, dass Du die
Chance bekommst, mit Deiner Invalidität ein Bürolehre zu absolvieren.
An Weihnachten dachten wir dankbar an das vergangene Jahr zurück und freuten
uns am Ist-Zustand.
Neujahr 1992
Niklaus begann mit voller Zuversicht im Brüggli,
einem Dienstleistungsbetrieb mit 100 Angestellten, in Romanshorn sein
Praktikum. Noch eine Arbeitskollegin, Anita Singer, fing mit dem gleichen
Ziel im Team an. Anfangs war es der Weg, vom Bahnhof ins Geschäft und nach
der Arbeit zurück zum Bahnhof, der ihm am meisten Sorgen machte. Er konnte
ihn sich nicht merken und verlief sich ständig. Zweimal fuhren wir an einem
Sonntagabend nach Romanshorn, um herauszufinden, welches der kürzeste Weg
ist. Auch auf dem Sprechgerät, das wir ihm zu Weihnachten geschenkt hatten,
erzählte er, wohin oder wolang er gelaufen ist.
Herr Conza, Chef der Abteilung bemühte sich zwar sehr, Niklaus sinnvoll zu
fördern. Nach kurzer Zeit Arbeit mit der Schreibmaschine durfte er an den
Computer, von dem Niklaus begeistert war. Es war für ihn wichtig, dass man
ihm am Feierabend zuhörte. Erlebnisse und Eindrücke im schönen Büro, im
Team, in der Mittagspause, im Zug und auf den Wegstrecken wollten mitgeteilt
werden. Manchmal erzählte er natürlich zweimal das Gleiche, weil er nicht
mehr wusste, was er schon gesagt hatte.
Immer noch führte er sein Tagebuch und so wurde die Handschrift immer
schöner. Die Therapie bei Michel einmal in der Woche nach Feierabend war
stets ein Aufsteller. Michel erprobte ihn meist in der Erinnerung an
Sportresultate und später fachsimpelte man über Computer. Gleichzeitig
trainierte man den Arm, d.h. den Ellbogen und das Achsengelenk, welches
beweglich bleiben muss. Zuhause massierte ich jeden Abend den Arm mit
Johannisöl, legte gequetschte Kohlblätter auf und band ihn ein.
Mehrmals konnte Niklaus mit seinem Chef, welcher in Gais seinen Wohnsitz
hat, heimfahren. Da konnte ich mich hie und da bei ihm nach den
Fortschritten und Leistungen von Niklaus erkundigen. Herr Conza war
zufrieden; er zweifle nicht, dass Niklaus die Bürolehre schaffen werde.
Niklaus sei gut im Team integriert und habe ein gute Auffassungsgabe und
Ausdauer. Natürlich brauche er mehr Routine für Neues, die Konzentration
lasse besonders am späten Nachmittag nach. Das forderte von Niklaus viel
Geduld, denn ohne etwas zu leisten herumzusitzen, deprimierte ihn oft. Dann
erwartete er am Feierabend noch etwas Interressantes, was auch nicht immer
geboten werden konnte. Zum Glück sorgten seine guten Kollegen wenigstens am
Wochenende für Unterhaltung.
Im Brüggli wurde für guten Geist im Geschäft viel Gewicht getragen. Alle 14
Tage wurde eine halbe Stunde Positives Denken mit dem Geschäftsleiter Herr
Fischer geübt. An den Abteilungssitzungen musste stets ein anderes
Team-Mitglied das Protokoll schreiben. Das war für Niklaus jedesmal eine
Herausforderung, weil er nur nach seinen Notizen arbeiten konnte, sich aber
nicht mehr an die Zusammenhänge erinnerte. Am Valentinstag bekam jede/r
MitarbeiterIn einen Blumenstrauss, der uns alle freute.
An einem Sonntagsspaziergang über Dreilinden fiel mir ein Mann auf, der
seine rechte Schulter etwas tiefer hatte und die Hand in der Hosentasche
hielt. Ich machte Niklaus auf den Schicksalgenossen aufmerksam und forderte
ihn auf, diese Idee nachzuahmen. Die Finger stiessen aber in der Hosentasche
an und er empfand dies unbequem. Zuhause konnten wir dann die Nähte aller
rechten Hosentaschen auftrennen. So wurde Deine Armschlinge überflüssig,
weil das mit der Hand in der Hosentaschen viel praktischer war und die Hand
so auch nie frieren musste. Zudem war es auch für das Auge viel schöner.
Von Deinen Berufserfahrungen als Fahrradmechaniker konntest Du im Brüggli
profitieren. Der Verkauf der Leggero’s (Fahrradanhänger) verlangte hie und
da die Erklärungen der Anhängevorrichtungen bei den verschiedenen
Velorahmen. Er nahm Beschreibungen mit für jene Mitarbeiter, die keine
Ahnung von einem Fahrrad hatten. Im Frühling wurde er zum Firmenfussball
spielen jeweils am Dienstagabend eingeladen. Das machte Dir Spass, weil ja
oft auch mit der Aktivriege trainiert wurde. Du durftest auch intern einen
Word 5.0 Kurs besuchen. So verliefen die Wochen schnell und die
Begeisterungen wechselten hie und da mit Enttäuschungen, dementsprechend
verliefen auch die Nächte mit gutem oder schlechtem Schlaf. Das Zureden und
Abhören war ganz wichtig, wobei wir immer betonen mussten, dass jedes Leben
eine Sonnen- und Schattenseite habe. Niklaus erreichte wieder fast sein
früheres Gewicht. Das forderte eine neue Garderobe. Im Tagebuch schrieb er
nach dem Einkauf, dass die Verkäuferinnen verstehen und helfen würden.
Auf der Hin- und Rückfahrt nach Romanshorn traf er stets bekannte,
liebgewonnene Gesichter und die Wanderung vom und zum Bahnhof genoss er
sichtlich nach dem langen Sitzen. Ende März erhielt er die Bestätigung für
die Lehrlingsausbildung. Jetzt wurde es immer schwieriger für uns, den
Berichten über das Experimentieren am Computer mit Interesse zuzuhören. Bei
neuen Schritten forderte ihm sein verletztes Kurzzeitgedächtnis grosse
Anstrenungen. Das brauchte auch für den Chef und die MitarbeiterInnen viel
Geduld. Niklaus brauchte sein Sprechband nicht gerne, weil er ständig
vergass, es einzusetzen. So erkannte er, dass er neue Aufgaben am Besten
aufschreibt, damit er sie jederzeit ablesen konnte. Nach viel Routine
blieben ihm dann so die Computer- und Druckerkenntnisse Schritt um Schritt.
Beim Betriebsausflug Ende Mai amüsierte sich Niklaus sehr. In nostalgischen
Wagen gab es Gelegenheit zum Jassen. Hie und da gab es nach Feierabend
Einladungen von Team-MitarbeiterInnen.
Am 1. Juni mussten wir zum Untersuch bei Dr. Rast. Am Vorderarm spürtest Du
den Unterschied zwischen stumpf und spitz. Die Überempfindlichkeit am
Oberarm war verschwunden. Ansonsten konnte der Doktor aber keine weiteren
Fortschritte feststellen.
In der Bude, so nannte Niklaus seinen Arbeitsplatz, wurde das Büro
umgestellt und klar unterteilt. Der Telefondienst wurde ab Ende Juni zu
seiner neuen Aufgabe. Solange Anrufe kommen, sei dieser Dienst erträglich,
schrieb er ins Tagebuch, aber mit der restlichen freien Zeit wisse er nichts
anzufangen.
So gab es wieder Schlafstörungen und er war zu müde um am Dienstagabend beim
Fussballspielen mitzumachen. Dann installierte eine Kollegin Word 5.0 auf
seinen Computer und er hatte so in der toten Zeit etwas zu tun.
Während den drei Ferienwochen erlebte er viele schöne Wochenende mit den
Kollegen, einige Ausflüge und Bergtouren mit der Familie, half im Haushalt,
beim Bohnenspitzen und zwischendurch hatte er Langeweile.
Lehrbeginn
Dann begann die Bürolehre im Brüggli in Romanshorn.
Noch eine Arbeitskollegin, Anita, fing im Team an mit dem gleichen Ziel.
Am Mittwoch, dem 12. August 1992 hatte er den ersten Schultag in der
Kaufmännischen Berufsschule in Weinfelden. Den Weg mit der Bahn dorthin
kannte Niklaus zum Glück noch aus der Zeit seiner Berufslehre als Fahrrad-
und Motorradmechaniker.
Er fand seine Klasse mit 17 Mädchen und drei Knaben
gut. An den folgenden Schultagen gab es viel Aufgaben, welche Niklaus
zuhause nun zur Abwechslung und Freizeitausfüllung verhalfen. Er schrieb in
der Schule flüchtig und unleserlich, weil es schnell gehen musste. Zuhause
machte er dann die Reinschrift und konnte sich so mit dem Bildgedächtnis
alles besser merken.
In der Bude verlief alles normal, d.h. ausser dem Telefondienst erledigte er
kleine Aufträge. An einem Freitag erledigte er soviel neue Arbeit, dass er
abends zu müde war, um mit den Freunden ins Training zu gehen.
Im Oktober hatte er Schulferien und die freie Zeit verbrachte Niklaus meist
mit Freunden an der OLMA.
Im November hatten wir wieder einen Termin bei Dr. Rast. Mit einem Lächeln
stellte er wieder einen kleinen Fortschritt fest: der gelähmte Arm bekam
mehr Umfang und Niklaus konnte ihn nach innen bewegen, nicht aber nach
aussen.
Am 2. Dezember hiess es im Tagebuch von Niklaus, dass er in der Schule vom
Turnunterricht dispensiert wurde, dafür aber schwimmen gehen müsse. Bei den
Maschinenschreibstunden war er unter den Besten trotz nur einer Hand. In der
Abteilung gab es einen Chefwechsel. Herr Conza verliess das Brüggli und neu
wurde Herr Kuster angestellt. Herr Conza machte sich selbständig in der
Computerbranche.
Mir fiel auf, dass Niklaus anfangs viel 'Spass und Gaudi' mit dem neuen Chef
hatte, den er duzen durfte. Schon nach wenigen Wochen klagte er, dass ihm
zuwenig Arbeit erklärt und zugeteilt werde. Der Telefondienst wurde jemand
anderem übergeben. Niklaus verlor den Respekt und die Achtung vor Herr
Kuster und er hatte Heimweh nach Herrn Conza. Da entstanden natürlich
Spannungen. Niklaus klagte oft, dass er auf Antworten zu Problemen im
Geschäft zulange warten müsse. Ich warf ihm vor, dass er noch nie ein
geduldiger 'Warter' war und forderte ihn immer wieder auf, Geduld zu üben,
weil er es von uns und den anderen auch fordert. Sein verletztes
Kurzzeitgedächtnis wurde für alle Umgebenden eine Herausforderung und
Nervenbelastung.
Niklaus wehrte sich und behauptete, dass die Arbeitskollegin Anita vom Chef
vorgezogen werde und mehr Chancen bekomme, etwas zu lernen. Diese
Unzufriedenheiten brachten wieder mehr schlafgestörte Nächte und
dementsprechende Launen und Auseinandersetzungen zuhause. Die Wochenenden
mit den Kollegen wurden jeweils zum Aufsteller. Auch das Alpweekend und die
Vorbereitungen auf den Unterhaltungsabend des Turnvereins im November
brachten Abwechslung. Natürlich war der Jass in der Mittagspause auch ein
Trost.
Mitte November wurde das Büro schon wieder
umgestellt und im Dezember gab es ein feines Geschäftsessen im Bodan.
Niklaus kaufte sich auf Weihnachten einen Computer. So hatte er nun genug
Beschäftigung an den langen Feierabenden. Ein Kollege von der Druckerei im
Brüggli kam zu ihm nach Hause und nahm die Installationen und nötige
Einstellungen vor. Anfang Januar teilte Herr Kuster mit, dass demnächst Herr
Arnold, der Berufsberater von der IV, vorbeikommen werde. Zusammen sollte
beraten werden, ob Niklaus die Ausbildung zum Büroangestellten beende oder
ob er etwas im Bereich Informatik lernen könnte. Es stellte sich dann
heraus, dass vorerst die Bürolehre abzuschliessen sei.
Ende Januar freuten wir uns alle über das gute bis sehr gute Schulzeugnis
von Niklaus. Auch im Geschäft wurde er mit einem Blumenstrauss dafür
belohnt. Ich staunte über die Schulleistungen, die ihm trotz des
Frühaufstehens um 05.25 Uhr und des schlechten Gedächtnisses gelangen. Im
Deutsch und Rechnen genügte noch das frühere Wissen und in den anderen
Fächern wie Bürokommunikation, Betriebs- und Rechtskunde, Buchhaltung,
Staats- und Wirtschaftskunde half Dir jeweils Papa abfragen. Bis Ende
Februar stand den Lehrlingen im Geschäft eine Stunde in der Woche zum Lösen
der Aufgaben zur Verfügung. Niklaus verstand sich gut mit Anita und sie
lernten oft miteinander. Manchmal bat sie auch Niklaus telefonisch um Hilfe
bei den Aufgaben. Anita hatte Verkäuferin gelernt und wurde durch eine
Krankheit an den Rollstuhl gebunden.
Ende Februar durfte ein Teil der Angestellten zur Zweiradausstellung nach
Zürich fahren.
Die Therapie bei Michel Kandel jeweils am Montag
war immer unterhaltsam und humorvoll. Auch wenn es dem gelähmten Arm nicht
viele Fortschritte brachte, erhielt dafür sein Gemüt wertvolle Impulse.
Zu Beginn 1993 bekam Niklaus seine Frühlingsferien und er fing an, diese
Unfallgeschichte auf seinem Computer zu erfassen. Ende April nahm Herr
Kuster Ferien und Niklaus arbeitete während dieser Zeit in der
Textilabteilung um bestimmte Fachbegriffe und deren Anwendung kennen zu
lernen.
An einem schönen Frühlingstag rief Herr Fischer, Geschäftsleiter vom Brüggli
mir an und teilte mit, dass dringend eine Besprechung durchgeführt werden
müsse, bei der Herr Arnold von der IV, Herr Kuster, Frau Leitner,
Klassenlehrer Herter und die Eltern anwesend sein müssen. Er glaube, dass es
keinen Sinn habe, wenn Niklaus die Bürolehre beende, man könne ihn doch
nirgends brauchen, er jedenfalls wollte ihn nicht vergebens. Das war ein
Blitz aus heiterem Himmel, alle Hoffnungen schienen zu schwinden.
Darauf rief ich Herr Conza in Gais an und erzählte es ihm. Er riet mir, auf
jeden Fall für das Beenden der Lehre zu kämpfen. Er habe auch nicht
verstanden, wieso man Herrn Kuster als Chef in diese Abteilung gewählt habe.
Er vermute, dass Niklaus einfach zu unbequem sei, dass man die IV-Gelder
lieber einfacher verdienen möchte. Zudem habe der neue Chef keine
kaufmännische Lehre abgeschlossen. Jedenfalls fand die Sitzung anfangs Mai
statt. Nach zwei Stunden angeregter Diskussion kamen wir zum Schluss, dass
wir über die vielen Fragen schlafen werden und im Juli in gleicher Runde
noch einmal zusammenkommen und entscheiden ob Niklaus die Lehre abbrechen
oder sie mit einem speziellen Programm in der Buchhaltung beenden soll. Herr
Herter, der Deutschlehrer von Niklaus war zugleich Psychologe und
hinterfragte das Verhalten von Niklaus im Geschäft. In der Schule sei er
einer der aufmerksamsten Schüler und bei den MitschülerInnen gut integriert.
Ich erklärte, dass Niklaus auf Anita eifersüchtig sei, weil sie mehr
gefordert werde. Zudem könne er mit Wartezeit, die anstatt zehn Minuten bis
zu einer Stunde währe, nichts anfangen, werde darum bockig und unzufrieden.
Ich vermute, dass es sich einfach um ein Unverstandensein zwischen Herr
Kuster und Niklaus handle.
Bei Herr Conza kamen diese Probleme nicht zum Vorschein, volle sechs Monate
war Niklaus im Praktikum und die Fähigkeiten überzeugten, dass er die Lehre
schaffen werde. Die Vorwürfe von Herr Fischer, dass wir ehrgeizige Eltern
mit Prestigedenken seien und zuviel von unserem Sohn erwarten, wies Papa
zurück und fragte ihn, was anderes ein Einhänder denn sonst machen könne.
Auch Herr Arnold von der IV bestätigte, dass ja Niklaus von ihm getestet
wurde und die guten Rechnungs- und Deutschkenntnisse zu diesem Ergebnis
geführt haben. Dann warf man mir auch vor, dass ich vielleicht Niklaus zu
fest helfe und er deshalb nicht selbständig werden könne. Herr Fischer
schlug vor, dass unser Sohn im Wohnheim Brüggli ein Zimmer nehmen soll, was
ja von der IV bezahlt werde. Niklaus sei für sein Alter recht unreif und
unselbständig.
Ich wehrte mich gegen diese Anschuldigung und fragte nach was für Maßstäben
denn ein junger Mann mit 21 Jahren nach solch einem Unfall gemessen werden
könne. Sein verletztes Kurzzeitgedächtnis sei nun einmal auf ständige Hilfe
und Mitdenken angewiesen wie zum Beispiel Kollegin Anita auf ihren
Rollstuhl. Von ihr verlange man doch auch nicht, dass sie es ohne ihn
versuchen soll. Ich gab zu, dass viele andere in seinem Alter schon
selbständig wohnen, aber meist mit einer Freundin, die in meinen Augen ja
ein Mutterersatz sei, was Niklaus sich ja nicht leisten könne und auch nicht
wolle. Auch Papa sträubte sich gegen dieses Angebot und sagte, dass das
Wohnen bei den Eltern während der Lehre wohl die bessere Lösung sei und auch
die täglichen Fussmärsche nach dem langen Sitzen gesund seien. Zudem teilten
wir mit, dass ja alle seine guten Freunde auch zuhause wohnen. Ich meinte,
dass die Stunden des Positiv-Denkens doch nicht nur für die Lehrlinge gelten
sollten, sondern auch für das Begleit- und Lehrpersonal.
Zur Freude von Klassenlehrer und Psychologe Herter verriet ich, dass Niklaus
auch als Kind immer auf seine Schwester Anita eifersüchtig war, weil sie
besser reden konnte und er unbewusst so in den Schatten gedrückt wurde. Ich
machte auch klar, dass angeborene, vererbte Eigenheiten nicht der Erziehung
der Mutter angelastet werden dürfe. Niklaus schrieb an diesem Abend ins
Tagebuch: ‘Ich muss lernen, meine Verletzung zu akzeptieren und Hilfsmittel
zu benutzen. Von mir wird dringend erwartet, dass ich im Verhalten gegenüber
Drittpersonen reifer werde, das heisst, meine Persönlichkeit im Arbeitsteam
muss erträglicher werden. Mein Besserwissen muss ich schubladisieren und
mich unterordnen lassen.’ Im Geschäft bemühte man sich, Niklaus mehr
Aufgaben anzuvertrauen.
Das Pfingstwochenende lenkte von den Sorgen ab: Niklaus konnte mit den
Freunden ins Tessin fahren, wo eine kleine Zeltstadt errichtet wurde.
In den folgenden Wochen entstanden einige Gespräche mit Herr Herter in der
Schule und auch im Geschäft mit Herr Fischer. Am 1. Juli wurde im Brüggli
den 11’111-ten Leggero verkauft, was mit einem Sandwich zum Znüni für alle
MitarbeiterInnen gefeiert wurde.
Auch mit den Halogenlampensystem reluci machte sich der
Dienstleistungsbetrieb weltweit einen guten Namen.
Am 5. und 6. Juli musste Niklaus an einem Zivilschutzkurs in Altstätten
teilnehmen. Ausgerechnet an jenem Montagmorgen war eine wichtige Besprechung
im Brüggli mit Herr Herter, Herr Arnold und die Chefpersönlichkeiten vom
Geschäft. Da wurde abgesprochen, dass er die Lehre beenden dürfe und dass er
nach den Sommerferien zu Frau Leitner in die Buchhaltung kommen werde. Dort
werde Niklaus Corel Draw, ein Grafikprogramm auf seinen Computer geladen. Er
dürfe aber nicht im System arbeiten, weil dies wegen seinem schlechten
Gedächtnis nicht zumutbar sei.
Zuhause probierte er vieles mit seinem Computer aus, hatte ein
Buchhaltungsprogramm für sich und kaufte sich auch noch einen günstigen
Drucker. Nun erarbeitete er auch hie und da Arbeitsblätter vom Brüggli, weil
er dort mit dem alten Computer Mühe hatte. Er durfte drei Wochen in der
Druckerei helfen, wo er aber nebst Adressen erfassen nicht viel leisten
konnte.
In der Berufsschule in Weinfelden traf er jetzt hie und da die ehemaligen
Lehrer von der ersten Ausbildung. Im momentanen Schulunterricht findet er
die Staats- und Wirtschaftskunde sehr interessant, was er zum Glück mit Papa
viel üben kann. Im Rechnen bereitete ihm die Waren-kalkulation zu Beginn
grosse Mühe.
Mit dem 'alten und langsamen' Corel Draw im Geschäft ärgerte sich Niklaus
den ganzen Herbst und konnte wieder ab und zu nicht gut schlafen.
Anfangs September bekam er vom Elternrat der Pfadi Erlach eine neue Aufgabe.
Sie wählten ihn zum Abwart des nahe gelegenen Pfadiheims und er erhielt die
Schlüssel und die Verantwortung für das Heim. So bereicherte er seine
Freizeit mit Kontakten zu Pfadern und Spaziergängen ins Heim. Bei Unordnung
muss natürlich Mama putzen. Wird etwas kaputt gehen, versteht Papa es
ausgezeichnet, den Defekt zu reparieren.
Im Geschäft versucht Frau Leitner Niklaus sinnvoll zu beschäftigen, um ihm
tote Zeit zu ersparen. Nebst dem einen Schultag durfte er noch an einem
Nachmittag zum Computerkurs. Er erzählte, dass er zwar nicht viel Neues
lerne, dafür in der freien Zeit andern helfen könne. In seinem Tagebuch
konnte man immer mehr Positives lesen. Im Programm Corel Draw entdeckte er
die vielen Symbole und dank Herr Tobler, dem Systemverantwortlichen konnte
er auf dem Farbdrucker in der Druckerei ausdrucken. Am 12. November schrieb
Niklaus ins Tagebuch: 'mir gefiel es, wie ich den ganzen Tag zu arbeiten
hatte und am Abend noch von Herr Fischer für die Arbeit (Listen mit Excel)
gelobt wurde.' Zu Weihnachten bekam Niklaus wie alle seine MitarbeiterInnen
einen Früchtekorb vom Geschäft.
Über die schönen Festtage wurde zur Freude von Niklaus viel gejasst. Auch
mit seinen Kollegen verbrachte er schöne Tage, vor allem am Silvester auf
der Schäflinsegg bei einem 6-Gang Menü.
Im Geschäft begann das neue Jahr mit einer Enttäuschung. Sein Computer war
immer noch nicht vollständig und korrekt eingerichtet. Heidi Leitner
versprach dann, dass Fritz Tobler ihn als nächsten drannehmen werde.
Beim Versuch, am Ausverkauf einen günstigen, warmen Mantel zu finden, war
Niklaus über sich selbst enttäuscht: beim Preisvergleichen in verschiedenen
Geschäften, fand er den in Frage kommenden nicht mehr, das heisst, er konnte
sich einfach nicht mehr an das betreffende Geschäft erinnern. So musste halt
Mama beim nächsten Mal am Abendverkauf mit dabei sein.
In der Schule gab es jetzt mehr Aufgaben zu lösen und Dank denen war die
Freizeit zuhause sinnvoll ausgefüllt. An einem Sonntag versuchte er zu
'langläufeln'. Doch schon nach dem ersten Sturz bei einer kleinen Abfahrt
gab er es auf. Das mangelnde Gleichgewicht verdarb ihm die Freude bei diesem
Sport. Ende Januar brachte Niklaus ein gutes Zeugnis von der Schule heim.
Wir belohnten ihn mit einem Jassabend. Papa fuhr mit ihm nach Bellikon zum
Untersuch. Dr. Caprez testete ihn mit Fragen, Zahlenreihen aufsagen,
Geschichten nacherzählen und vielem anderen mehr. Er war erfreut über seine
Fortschritte. Ab Februar konnte Niklaus für seinen Deutschlehrer Herter
Arbeitsblätter erfassen und gestalten. Das Darstellen von Blättern machte
ihm besonders Freude. Deshalb durfte er im Brüggli während einer Woche in
der Druckerei schnuppern. Aus dem Tagebuch entnahm ich, dass er dort nicht
viel Produktives leisten durfte, die Behinderung seines rechten Armes
begrenzten die Möglichkeiten. So überlegte Niklaus öfters, was er nach der
Lehre machen solle. Im Brüggli bleiben kam für ihn nicht in Frage. Darum
schrieb und telefonierte er einmal seinem ersten Chef Mario Conza. Im März
erfuhr er von ihm, dass er als Computerfachmann Firmen bei Problemen berät.
Er versprach, nach einer Idealstelle für Niklaus Ausschau zu halten.
An Ostern teilten die Kollegen ihre Freizeit wiederum mit Niklaus , stolz
zeigte er ihnen sein neues Zubehör zum Computer, das CD-ROM. Natürlich wurde
aber intensiv gejasst. Auch die OFFA verhalf zu Treffen mit Kollegen und
jedes Fussballspiel des FC St.Gallen wurde mit ihnen verfolgt. Nach schönen
Tagen schrieb Niklaus öfters ins Tagebuch: 'heute war so richtiges
Töffwetter.' Bei der Organisation des beliebten Hallenjockeyturnier wurde er
von der Aktivriege nach seinen Möglichkeiten miteinbezogen.
Anfangs Juni wurden die Bürolehrlinge in der Schule über Rechte und
Pflichten nach der Lehre informiert. Da jetzt Conny Bollhalder in der Nähe
vom Brüggli arbeitete, konnte Niklaus öfters mit ihr per Auto heimfahren. So
freute er sich über die verlängerten Feierabende. Sepp und Martina Metzger
mit Walter übten jede Woche wieder Alphornblasen beim Pfadiheim und Niklaus
ging sie öfters begrüssen.
Im Geschäft erhielt er neue Aufgaben: für die Beschreibungen der Abläufe im
Prozessmangement konnte er die Arbeitsblätter gestalten. Mit Mitarbeiterin
Anita löste Niklaus hie und da Aufgaben an den freien Samstagen in ihrer
Brüggli-Wohngruppe-Wohnung oder gab Rat über Telefon. Sein Computer zuhause
sorgte hie und da für Aufregungen oder besser gesagt für Probleme, die er
dann mit Hilfe dritter lösen konnte.
Schon feierten die Lehrlinge den letzten Schultag mit dem Klassenlehrer,
Herr Herter im Restaurant Ottenberg in Weinfelden. Doch zuhause musste
Niklaus noch viel vor der Prüfung repetieren.
Abschlussprüfung
Am Dienstag 14. Juni begann die Abschlussprüfung.
Anita und Niklaus durften in den schriftlichen Fächern mehr Zeit
beanspruchen. Deshalb mussten sie am anderen Morgen nochmals nach
Weinfelden, um die Deutschprüfungen und den Aufsatz zu schreiben. Bei dieser
Gelegenheit besuchte Niklaus nochmals seinen beliebten Lehrer aus seiner
ersten Lehrzeit, Herrn Bilger. Auch Donnerstags und Freitags waren Prüfungen
in der Schule, die ihn etwas stressten.
Jedenfalls plagte ihn am Freitagabend eine leichte Angina und er verzichtete
für einmal auf das Training in der Aktivriege. Das freie Wochenende genügte
nicht um die Halsentzündung zu heilen und er blieb bis am Mittwoch zuhause.
Am Freitag dann durfte er den letzten Büroausflug mit Ross und Wagen übers
Hudelmoos geniessen und freute sich mit allen am feinen Essen im Schloss
Hagenwil.
Am Dienstag dem 28. Juni bekam Niklaus den
wichtigen Brief von der Berufsschule: er entnahm mit Freude, dass er die
Abschlussprüfung gut bestanden hat. Die geglückte Abschlussnote 5,4 feierten
wir dann mit ihm am Sonntag auf dem Säntis. Wir genossen das feine
Mittagessen und jassten dank der Anwesenheit von Franzjosef zu viert.
Danach wanderten wir über den Blauen Schnee zum Öhrlikopf und über die
Nasenlöcher zurück zur Schwägalp. Das strahlende Wetter im schönen Alpstein
machte es einem leicht, für all die vergangenen überstandenen Spannungen,
Fortschritte und für den gelungenen Abschluss der Lehre zu danken. Die
Bergtour ermüdete Niklaus sichtlich, denn seine Sprache wurde wieder
schleppender.
Am 4. Juli mussten Papa und ich nochmals ins Brüggli zu einer Besprechung
mit Herr Arnold von der IV und dem Arbeitgeber Herr Fischer und mit Frau
Leitner. Wir diskutierten über die berufliche Laufbahn von Niklaus. Im
Brüggli bleiben will er auf keinen Fall, was alle gut verstanden. Durch
unsere Nachbarn bekam er Aussicht auf eine Anstellung beim
Landmaschinenmechaniker Sutter in Andwil. Die IV bezahlte eine dreimonatige
Einarbeitungszeit.
Praktikum
Der 15. Juli war sein letzter Arbeitstag im Brüggli, den Abschied durfte er in der Cafeteria feiern. Am 8. August fing Niklaus erwartungsvoll auf dem neuen Arbeitsplatz an. Mit dem 07.32 Uhr Postauto fuhr er nun jeden Morgen ab Bahnhof Wittenbach über Waldkirch nach Andwil. Das Büro war gegenüber dem im Brüggli sehr eng und der Computer langsam. Dafür bekam er in den ersten Wochen genügend Arbeit. Es gab viele Rechnungen von Reparaturen und Melkmaschinen-Servicen zu schreiben. Die Werkstatt mit dem Geruch nach Eisen und Öl neben dem kleinen Büro heimelte Niklaus an und er schätze es auch, mit den Arbeitern und Lehrlingen das Mittagessen im Restaurant einzunehmen.
Zuhause schweisste Papa einen Halter um Fahrräder
zu befestigen und einen Zentrierbock, nachdem er an Mama’s Velo das
Hinterrad beschädigt hatte. Niklaus hoffte, dass auch Kollegen oder Nachbarn
ihm hie und da ein Fahrrad zur Reparatur bringen würden.
Anfangs September kam Herr Arnold in die Landmaschinen-werkstatt von Anton
Sutter und vereinbarte mit Herr Sutter ein Arbeitsverhältnis auf weitere
Sicht. Mehr als drei Tage Arbeit in der Woche würde die Büroarbeit nicht
beanspruchen, wenn vorerst alle zurückgelegten Rechnungen nachgeschrieben
seien, hiess es. So solle sich Niklaus noch um eine andere Teilzeitstelle
kümmern. Schon Mitte September fühlte sich Niklaus nicht mehr ausgelastet
und erhielt oft freie Tage. Herr Sutter hätte ihm eigentlich gerne das
Ersatzteillager anvertraut um die Arbeitskräfte voll für Reparaturen,
Service und Montagen einzusetzen. Der lahme rechte Arm und das verletzte
Kurzzeitgedächtnis setzte bei dieser Aufgabe Grenzen, an die Niklaus ungern
anstösst. Ende September brachte dann Niklaus die Nachricht heim, dass Frau
Sutter die Büroarbeiten wieder selber bewältigen wolle. So schrieb er
während den letzten Arbeitstagen im Oktober einige Bewerbungen,
zwischendurch füllten wir die freien Tage mit Bergtouren aus. Herr Sutter
stellte Niklaus ein gutes Zeugnis aus, belohnte ihn mit einem schönen
Trinkgeld und meinte, er solle sich bei der Post bewerben.
Mitte November hatten wir nochmals eine Untersuchung bei Dr. Rast. Er
stellte keine grossen Veränderungen am rechten Arm fest und bewilligte
weiterhin die Physiotherabie bei Roman Neuber, damit Achsel- und
Ellbogengelenk nicht versteifen. In Zukunft wird aber der Kreisarzt der SUVA
darüber zu entscheiden haben.
Mitarbeit bei der SPARAD-Übernahme
Am 25. November bekam Niklaus die Chance, sich bei
Herr Schläfli von der St.Gallischen Kantonalbank vorzustellen. Sie suchten
Aushilfen für die SPARAD-Daten-Übernahme. Vreni Selva, die Tochter unserer
langjährigen Nachbarin hat uns darauf aufmerksam gemacht. Schon drei Tage
später erhielt Niklaus den Arbeitsvertrag für zwei Monate. So begann er am
29.11.1994 im vierstöckigen Hauptsitz der Bank mit einigen Hausfrauen seine
Arbeit. In sein Tagebuch schrieb er an einem Abend 'die Arbeit ist ähnlich
wie zu Beginn meiner Brügglizeit, jedoch viel besser bezahlt.' Er musste den
Kundenstamnm der SPARAD mit demjenigen der St.Galler Kantonalbank
vergleichen. Am 1. Dezember schlug man ihm vor, dass er anschliessend an die
Aushilfstätigkeit bis Juni bei der Datenübernahme der Kommerzbank behilflich
sein könne und wir schlossen daraus, dass sie mit ihm zufrieden seien.
Während der Mittagspause hatte Niklaus zuerst Schwierigkeiten, ein
zufriedenstellendes Mahl in guter Atmosphäre zu finden. Nach einem Tip von
seinem Freund Lukas ass er im Restaurant Papagei, wo er nach dem Essen auch
die Zeitung lesen konnte. Im Arbeitsteam entstand ziemlich schnell ein guter
Geist. Niklaus wurde zum 'Hahn im Korb'. Die Arbeit wurde ab Mitte Dezember
anspruchsvoller, sie gelang aber nach anfänglichen Schwierigkeiten immer
besser. Wurde es einmal zu anstrengend, merkte Niklaus, dass er abends eine
Stunde früher Feierabend machen musste. Das konnte er gut, denn er war ja im
Stundenlohn angestellt. Die IV musste ihn bei dieser Stelle nicht
unterstützen und ergänzen. Über Weihnachten und Neujahr hatte er keine
Ferien und ab 13. Januar arbeitete er mit jungen Leuten (ein
Bankangestellter, eine Büroangestellte, ein Student und eine Studentin) im
Gebäude der ehemaligen SPARAD. Herr Stöckli als Leiter begleitete ihn bei
anfänglichen Schwierigkeiten. Niklaus fiel auf, dass sie auf engem Raum mit
wenig Tageslicht arbeiten müssen; dank der guten Atmosphäre war dies jedoch
erträglich. Er erfuhr neue Herausforderungen und sprach oft mit Papa das
Bankwesen. In den zwei Wochen, in denen das Restaurant Papagei wegen Ferien
geschlossen hatte, folgten anstrengende Mittagspausen.
In Selbstbedienungsrestaurants von Kaufhäusern musste er zulange anstehen
und das Tablett zu tragen mit nur einer Hand war schwierig. In einem anderen
Restaurant kostete ihm das Menu zu viel. So freute er sich wieder auf die
Bedienung der Auswahlmenues im Papagei und kam mit den bekannten
Tischgenossen hie und da ins Gespräch. Zwischendurch gesellten sich auch
Kollegen dazu. Niklaus versuchte nebst dem wöchentlichen Training mit der
Aktivriege auch den Schwimmsport als Ausgleich zum steten Sitzen auszuüben.
Wenn aber zu viele Leute im Wasser waren, hörte er mit dem Rückenschwimmen
mit Flossen schon nach kurzer Zeit wieder auf. Darum freute er sich auf den
Sommer und hoffte, mit den Kollegen ab und zu an den See fahren zu können.
Das Team im Geschäft leistete so gute Arbeit, dass manchmal damit gespart
werden musste. So beendete Niklaus die Arbeitstage oft früher. Das Ende des
Arbeitsverhältnis rückte näher und wir alle suchten eine neue Stelle. Herr
Schläfli von der Bank versprach, Niklaus zu berücksichtigen, sobald wieder
geeignete Aufgaben anstehen würden. Er arbeite zuverlässig und exakt nach
anfänglichen Schwierigkeiten, dementsprechend brauch es Bereitschaft und
Geduld von dem Leiter.
Stellensuche
Bis heute schrieb er schon viele Bewerbungen und
geht jeden Dienstag auf die Gemeinde stempeln und schämt sich nicht. Er
sagt, das sei eine Versicherung wie jede andere auch. Der zweiwöchige Kurs
in St.Gallen, welcher vom Arbeitsamt vorgeschrieben ist, brachte einige neue
Impulse und Kontakte zu anderen Arbeitslosen. Die IV bezahlt Umschulungen
und eventuelles Einarbeiten. Du SUVA stellt eine Rente in Aussicht, falls
innerhalb von 1.5 Jahren keine Arbeit gefunden wird. Niklaus holt ständig
die Fachzeitung bei Velo Pichler und hofft, doch einmal auf einem
Versandbüro von Ersatzteilen und Zubehör für Fahr- und Motorräder Arbeit zu
finden. Nach einer Blindbewerbung konnte er sich sogar einmal vorstellen bei
Th. Wichser, Zweiradzubehör in Fehraltdorf. Doch da wurde das Holen und
Verpacken der Teile verlangt, was mit einer Hand leider nicht möglich ist.
So hofft und sucht er weiter in vielen Tageszeitungen nach Stellenangeboten
und schreibt zum Zeitvertreib seine Unfallgeschichte fertig. Mit dieser
Erzählung entsteht ein Andenken auch für seine treuen Kollegen und
interessierten Bekannten und Verwandten.
Familienleben heute
Heute, dem 25. Oktober 1995 ging Niklaus wieder in
die Kirche danken und bitten. Sein Bruder Franzjosef kann zwar nicht mehr
mit ihm rammeln, dafür geht er immer gerne mit den Hausaufgaben zu seinem
Bruder, wenn er etwas nicht versteht. Judith profitiert auch von Niklaus. Er
befasst sich seit dem Unfall viel mehr mit ihr mit Spass und Zankerei und
holt sie während der Arbeitslosigkeit vom Bahnhof ab. Anita kann ihren
Bruder jetzt wieder akzeptieren und ist öfters auf seinen Computer und Hilfe
beim Bedienen angewiesen.
Papa gewöhnte sich daran, dass sein ältester Sohn nicht mehr viel im Betrieb
mithelfen kann und freut sich, dass er wenigstens anfallende Schreibarbeiten
erledigen kann. Das häufige Jassen mit ihm baute er ab. Ich als Mutter bin
dankbar, wenn ich jeden Tag die Kraft und Gelassenheit bekomme, die
Geduldsproben wegen seines verletzten Kurzzeitgedächtnis zu bestehen.
Nach harten Auseinandersetzungen und Mahnungen bin ich manchmal froh, dass
er es ja wieder vergessen kann. Meine Aufgabe, aus ihm einen selbständigen
Hausmann zu machen, scheint mir fast eine Illusion. Er wird sein Leben lang
auf Hilfe angewiesen sein. Dass man aber in jedem Leben nicht nur angenehme
oder interessante Arbeit leisten kann und deshalb auch solche mit mehr
Freude und Bereitschaft annehmen sollte, möchte ich gerne in sein
Langzeitgedächtnis speichern!!!
Nachwort: ich danke allen vielmals, die in irgendeiner Weise zu meiner Genesung beigetragen haben
Vor allem ...
... meiner Mutter und der ganzen Familie
... meinen guten Kollegen
Auch hoffe ich, mit dieser Geschichte Verunfallten und deren Angehörigen ein Lichtblick zu schenken
die fehler, die sie finden, dürfen sie behalten